Wichtig war allen, dass dieses neu zu schaffende Lehrbuch die gesamte Mathematik von Grund auf präsentieren sollte. Mathematik war dabei in ihren Augen ein großes Spiel, eine Art überdimensionales Schach, so wie es Hilbert in seinem Programm vorschwebte.
Die jungen Mathematiker im Café Capoulade waren allesamt ausgefuchste Könner des mathematischen Spiels. Sie hatten es in ihrem Studium an der École Normale Supérieure, einer der Eliteschulen Frankreichs, ausgiebig gelernt. Einst trat Raoul Husson, ein Kommilitone, in Verkleidung eines bärtigen alten Professors im Seminarraum auf und dozierte, wobei er eine falsche Behauptung auf die andere folgen ließ. Die Aufgabe der Hörer war es, die Fehler in den Behauptungen des verkleideten Raoul Husson aufzudecken. Alle fanden diesen Auftritt sehr witzig, und am besten gefiel ihnen die letzte bizarre Behauptung des falschen Professors, die er das „Theorem von Bourbaki“ nannte. Jeden seiner falschen Sätze verband Raoul Husson nämlich mit einem bedeutend klingenden Namen eines fiktiven Mathematikers; in Wahrheit waren es aber Namen von Generälen der französischen Armee. Das „Theorem von Bourbaki“ benannte er zum Beispiel nach dem im deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 kämpfenden General Charles Sauter Bourbaki. In Erinnerung an ihre damaligen Studentenstreiche vereinbarten die nun jungen Professoren des Café Capoulade, sich hinter dem Pseudonym „Bourbaki“ zu verbergen: Der erfundene Mathematiker Nicolas Bourbaki sollte ihr Buch als Autor zieren. Später behaupteten sie, dass dieser Nicolas Bourbaki Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Nancago sei. Doch den Ort Nancago gibt es genauso wenig, wie es den Mathematiker Bourbaki gibt. Es ist eine Verballhornung gebildet aus Nancy und Chicago, zwei Universitätsstädten, an denen einige Angehörige der sich hinter Bourbaki verbergenden Gruppe lehrten.
Anfangs glaubte Bourbaki – wir lassen uns auf die Marotte der Gruppe ein und tun so, als ob er wirklich als Mathematiker existierte –, dass sein Lehrbuch in drei Jahren fertig geschrieben sei. Aber das Unternehmen erwies sich als weitaus aufwendiger, als es sich auf den ersten Blick ausnahm. Erst 1939 erblickten die ersten Bände seines monumentalen Werks, das den Namen „Éléments de Mathématique“, also „Elemente der Mathematik“ trug, das Licht der Welt. Und über Jahrzehnte hinweg wurden die Éléments de Mathématique um Folgebände erweitert. Vollendet wurde das Werk nie. Es verendete regelrecht, weil kaum mehr ein Mitglied der Gruppe den Überblick bewahren konnte. „Bourbaki ist ein Dinosaurier, dessen Kopf zu weit von seinem Schwanz entfernt ist“, behauptete zynisch Pierre Cartier, der von 1955 bis 1983 dem Bourbaki-Kreis angehörte. Dass Nicolas Bourbaki am 11. November 1968 friedlich in Nancago entschlafen sei und am 23. November 1968 um 15 Uhr im „Friedhof der Zufallsvariablen“ seine Beisetzung stattfinden werde, wurde in einer – niemand weiß, von wem verfassten – Parte mit hämisch gespielter Trauer verkündet.
Das Buchprojekt „Éléments de Mathématique“ des Nicolas Bourbaki erinnert an das erste Mathematiklehrbuch der Geschichte, an die „Elemente“ des griechischen Mathematikers Euklid. Wobei es, nebenbei bemerkt, einige Wissenschaftshistoriker gibt, die behaupten, auch Euklid habe es in Wahrheit nie gegeben. Auch hinter diesem Namen verberge sich ein Kollektiv von Gelehrten aus dem antiken Alexandria.
33 Ganz knapp nach dem Ersten Weltkrieg, noch bevor Weyl seinen engagierten und gegen die Position Hilberts gerichteten Artikel verfasst hatte, wurde eine einzigartige Gelegenheit verpasst, welche der Mathematik des 20. Jahrhunderts einen völlig anderen Verlauf verleihen hätte können. Denn trotz ihrer verschiedenen Auffassungen vom Unendlichen schätzte Hilbert seinen holländischen Kollegen Brouwer wegen anderer seiner mathematischen Schriften als tiefen Denker und eminenten Forscher. Hätten sie, bevor sie sich in ihre Positionen mit unnachgiebiger Härte verbohrten, einander getroffen und aussprechen können, wäre nicht nur Weyl, sondern möglicherweise auch sein ehemaliger Lehrer Hilbert von Brouwers Gedanken überzeugt worden. Die Chance ergab sich, als Brouwer während der Sommerferien kurz nach 1918 Weyl im Engadin besuchte und ihn für seine Sicht des Unendlichen begeisterte. Nur ein paar Tage früher war auch Hilbert in die Schweiz gereist; Brouwer schrieb eine Postkarte an Hilbert, in der er zutiefst bedauerte, ihn nicht persönlich getroffen zu haben …
34 Als der Streit zwischen Brouwer und Hilbert über fachliche Probleme hinaus sogar persönlich wurde, schlugen beide voneinander unabhängig vor, dass sich Albert Einstein als Schiedsrichter einmischen solle. Dieser lehnte dies ab, die Auseinandersetzung um die Grundlagen der Mathematik war ihm lästig, und er nannte den ganzen Hader einen „Krieg zwischen Fröschen und Mäusen“.
35 Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Methode Gödels zu erörtern. Hermann Weyl hat darüber in der Überarbeitung seines Buches „Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft“ berichtet. Es mag der Hinweis genügen, dass der zentrale Gedanke Gödels darin besteht, die Aussagen über das formale System so zu codieren, wenn man so will: zu verschlüsseln, dass sie sich in arithmetische Aussagen verwandeln, die somit im System selbst integriert sind. Die Codierung erfolgt bemerkenswerterweise mit Hilfe der Primzahlen. Sie spielen also auch bei der von Gödel ersonnenen „Verschlüsselung“, die man heute „Gödelisierung“ nennt, eine herausragende Rolle.
36 Das Thema von Gödels Dissertation war die Vollständigkeit des logischen Kalküls. Die reine Logik, die noch nicht die Arithmetik der Zahlen umfasst, ist ein vollständiges und widerspruchsfreies System. Mit dieser Aussage trug Gödel zum Fortschritt von Hilberts Programm bei. Umso überraschender war daher sein Unvollständigkeitssatz.
37 Ein Beispiel dafür ist der Satz von Goodstein, den wir in Anmerkung 10 kennengelernt hatten. 1982 bewiesen die beiden britischen Mathematiker Laurence Kirby und Jeffrey Bruce Paris, dass es eine widerspruchsfreie Mathematik gibt, in der Goodsteins Satz zutrifft, dass es aber eine ebenso widerspruchsfreie Mathematik gibt, in der Goodsteins Satz falsch ist.
38 Eine ähnliche Wette schloss 1918 Hermann Weyl vor zwölf Mathematikern als Zeugen mit seinem Kollegen György Pólya ab: Weyl setzte darauf, dass innerhalb der nächsten zwanzig Jahre die überwiegende Mehrheit der Mathematiker ihre Wissenschaft in dem von Poincaré, Brouwer und ihm skizzierten Sinn betreiben und das blinde axiomatische Regelspiel als sinnlos erachten werde, so sinnlos wie – so formulierten Weyl und Pólya es in ihrer Wette – die hegelsche Naturphilosophie. Als nach den zwanzig Jahren die beiden Kontrahenten vor einer Schar anderer Mathematiker wieder zusammenkamen, um festzustellen, wer gewonnen habe, war für fast alle, auch für Hermann Weyl klar, dass Pólya siegte: Praktisch alle Mathematiker betreiben ihre Wissenschaft so, als ob sie allwissend und allmächtig über das Unendliche verfügen können, und falls dabei Widersprüche am Horizont drohen, flüchten sie in den nur scheinbar sicheren Hafen des Regelspiels mit Axiomen. John von Neumann beschreibt diesen Sachverhalt in dem Aufsatz „The Mathematician“, der 1947 in dem von R. B. Heywood herausgegebenen Sammelband „The Works of Mind“ erschien, folgendermaßen:
„Nur sehr wenige Mathematiker waren bereit, die neuen anspruchsvollen Maßstäbe“ – gemeint ist die strenge „intuitionistische“ Mathematik von Brouwer und Weyl – „zu akzeptieren und bei ihrer eigenen Arbeit anzulegen. Sehr viele jedoch gaben zu, dass Weyl und Brouwer prima facie recht hätten. Sie selbst jedoch sündigten weiterhin, das heißt: betrieben ihre eigene Mathematik in der alten ,einfachen‘ Methode weiter – vermutlich in der Hoffnung, dass schon irgendjemand irgendwann einmal die Antwort auf die intuitionistische Kritik finden werde und ihre Arbeit dadurch a posteriori gerechtfertigt würde.“
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