Plötzlich gab es einen dumpfen Schlag, einen ohrenbetäubenden Krach und gleich darauf ein scheußlich knirschendes Geräusch. Die Kutsche machte einen scharfen Linksschwenk, stürzte um und blieb auf der Seite liegen. Als alles still war, mühte sich Hector auf die Beine, zitternd, aber unverletzt. Er barg seine Tasche und kroch aus der Tür, die jetzt über seinem Kopf war. Solomon stand fluchend und schimpfend am Straßenrand.
»Wir haben ein Rad verloren«, sagte er, während er die Pferde ausschirrte. »Aber das Dorf ist nicht mehr weit, nur noch ein kleines Stück bergauf. Da können wir die Kutsche reparieren lassen, bevor wir weiterfahren.«
So kam es, dass im unheimlichen Schein des fast vollen Mondes, begleitet vom rhythmischen Klappern der Pferdehufe, Hector und Solomon nebeneinander den steilen Hang hinaufritten. Bald konnten sie die Lichter des Dorfes erkennen, und am Straßenrand sah Hector einen großen flachseitigen Stein mit den eingemeißelten Worten Pagus Parvus .
»Pagus Parvus«, murmelte er. »Kleines Dorf.« Sein Lehrer für alte Sprachen hätte sich über seine Kenntnisse gefreut.
»Hier kriegen wir Hilfe«, sagte Solomon und seine Stimme klang erleichtert. »Und auch was Warmes zu essen.«
Hector blickte die mondbeschienene Straße hinauf. Der Hang war hier so steil, dass ein Weiterkommen schier unmöglich schien. Er stellte sich vor, wie die Dorfbewohner sich an den Fenstersimsen der Häuser entlanghangeln mussten, nur um sicher vom einen zum anderen Dorfende zu gelangen. Vor einer Wirtschaft stiegen sie ab – sie hieß Zur Blauen Forelle – und übergaben die Pferde der Obhut eines Jungen, der angerannt kam, sobald er sie gehört hatte. Hector folgte Solomon in den Gastraum, aus dem ihnen Gelächter und ein Schwall warmer Luft entgegenschlugen. Als der Wirt sie sah, war er gerade dabei, ein Glas hinter dem Tresen zu polieren – wenigstens wischte er daran herum. »Solomon!«, rief er aus. »Willkommen, Sir!«
»Benjamin Tup!«, erwiderte Solomon den Gruß. Er ging auf die Theke zu, erklärte kurz, wie es um die Kutsche stand, und sofort organisierte Benjamin ein paar Männer, die hinausgehen und sie instand setzen sollten. »Womit kann ich dienen?«, fragte er die beiden dann.
»Bier für mich und den jungen ’ector hier«, sagte Solomon. »Und wenn Ihr schon dabei seid, Kartoffeleintopf mit Gemüse und Fleisch.«
Solomon nahm sein Bier und steuerte einen Tisch an der Wand an, wobei etwas aus seinem übervollen Krug auf den mit Sägemehl bestreuten Boden schwappte. Er schien ein allseits beliebter Gast zu sein und wurde von links und rechts herzlich gegrüßt. Hector setzte sich zu ihm, dann kam eine alte Frau an ihren Tisch und begrüßte sie ebenfalls. Sie hatte ein nervöses Zucken, das sie von Zeit zu Zeit zwinkern ließ.
»Na, wohin seid Ihr beide denn unterwegs heut Nacht?«, fragte sie.
»Nach Withypitts Hall«, erklärte Hector.
Er war sich nicht im Klaren, ob er nun besonders laut gesprochen oder ob er vielleicht zufällig einen Augenblick erwischt hatte, wo es gerade besonders still war, jedenfalls legte sich plötzlich Schweigen über den Raum, kaum dass Hector das Ziel genannt hatte.
»Ein ungewöhnlicher Ort für einen jungen Burschen«, bemerkte die alte Frau.
»Ich hoffe, dass Lady Mandible mich für das Mittwinterfest anstellt«, erklärte Hector. »Aber was ist so ungewöhnlich an Withypitts Hall?«
»Am Herrenhaus selbst weniger«, sagte Benjamin und lehnte sich mit verschränkten Armen auf die Theke. »Eher an den Bewohnern! Ein Kommen und Gehen ist das da! Die Lieferungen für Lady Mandible werden ja immer durch unser Dorf transportiert, und ich sag dir, so was hast du noch nicht gesehen. Einmal ist eine Kiste vom Wagen gefallen und auseinandergebrochen und der Inhalt lag überall auf der Straße verstreut. Kleine Statuetten und Figuren von abscheulichen Monstern. Ausgestopfte Tiere – ich kannte nicht mal ihre Namen – und Knochen, große und kleine. Da fragt man sich doch, wozu braucht eine Lady so absonderliche Dinge?«
Alle, die zugehört hatten, nickten zustimmend.
»Nach Withypitts willst du, ja?«, sagte ein Mann, der aus dem Halbdunkel getreten war. »Ich werd dir eine Geschichte erzählen, danach wirst du dir’s vielleicht zweimal überlegen.«
»Na schön«, nickte Hector. »Aber ich sage Euch gleich, so leicht lasse ich mich nicht von meinem Vorsatz abbringen.«
Ebenso wenig schien sich der Mann vom Erzählen abhalten zu lassen. Er setzte sich an den Tisch und begann.
»Mein Name ist Oscar Carpue. Auch ich stamme aus Urbs Umida, und in ebendieser Stadt geschah es, dass man mir einen Mord anhängen wollte, den ich nicht begangen hatte – mein eigener Schwiegervater hatte mich beschuldigt! Ich konnte es nicht riskieren, zu warten, bis die Wachtmeister eintreffen würden. Ich war ein armer Mann, mein Schwiegervater war reich. Welche Aussicht hätte für mich bestanden, meine Unschuld zu beweisen? Ich machte mich also davon, ließ meinen Sohn Pin allein zurück und kam nach Pagus Parvus. Sobald ich es wagen konnte, kehrte ich zurück, um meinen Jungen zu suchen, aber da war er nicht mehr in unserer ehemaligen Wohnung. Ich habe ihn immer noch nicht gefunden.
Und was Withypitts Hall angeht, so zieht mich dort erst recht nichts mehr hin. Wir Dorfbewohner achten wenig darauf, was da oben so vor sich geht. Aber wir hatten gehört, dass Lord Mandibles Sohn heiraten wollte, und nicht lange danach, dass der alte Lord gestorben sei. Vor Kurzem erreichten uns dann Gerüchte über einen einäugigen Mann, der von Lady Mandible angestellt worden war. Und als vor ein paar Wochen eine schwarz glänzende Kutsche mit scharlachroten Jalousien und drei berittenen Bediensteten in unser Dorf kam, wussten wir, dass dies der berüchtigte Baron Bovrik de Vandolin sein musste.
Er war auf der Suche nach einem Tischler, und weil das mein Gewerbe ist, ging ich mit nach Withypitts. Das Herrenhaus ist bizarr anzuschauen, aus riesigen dunklen Steinquadern aus den Bergen erbaut und mit reichlich Steinmetzarbeiten verziert. Wenn man lange genug hinsieht, erkennt man überall in den gemeißelten Ornamenten und Wasserspeiern schauerliche Wesen: wilde Greife und abscheuliche Monster. In den Pfeilern des Vordachs verbergen sich Eidechsen und Schlangen zwischen den gemeißelten Blütenschnörkeln der Kapitelle. Man hat das Gefühl, als ob man ständig beobachtet wird.
Ich fing mit meiner Arbeit gleich im großen Speisesaal an und richtete ihn für das Mittwinterfest her. Meine Aufgaben waren unkompliziert: die holzgetäfelten Wände reparieren, lockere Dielenbretter befestigen, wackelnde Stühle standfest machen. In der Zeit, die ich dort verbrachte, habe ich kaum eine Menschenseele gesehen, aber oft hörte ich über dem Lärm von Drehbank und Hammer Lord Mandible am Cembalo spielen und seine zwei Katzen dazu miauen.
Eines Abends, kurz nach dem zehnten Schlag, hörte ich ein großes Spektakel von irgendwo aus dem Haus. Ich bin so neugierig wie andere auch, also legte ich mein Werkzeug weg und ging dem Lärm nach bis in die Eingangshalle, wo sich mir ein ganz und gar befremdlicher Anblick bot. Eine Gruppe von Männern, der Kleidung nach Jäger, stand über irgendein Tier gebeugt, das auf dem Marmorboden lag. Es war groß und dunkelhaarig, hatte vier Gliedmaßen – meiner Ansicht nach Beine und Arme, ähnlich wie ein Affe – und einen enorm großen Schädel. Es verströmte einen beißenden Geruch nach verwesendem Fleisch, als ob es schon tot wäre. Aber während ich so hinsah, merkte ich, dass sich seine Brust hob und senkte. Plötzlich bewegte es sich und da stach ihm einer der Jäger einen Dolch bis zum Griff in die Seite. Das Tier stöhnte auf und drehte den Kopf – und ich schwöre, dass es mir in diesem Moment direkt in die Augen sah! Was das für ein Gefühl war, kann ich dir noch heute nicht beschreiben.
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