»Was ist?«, fragte Perigoe.
Ich sah noch einmal hinüber, aber da war nichts. »Nur ein Schatten«, sagte ich, aber sicher war ich mir nicht.
Perigoes Gastfreundschaft war erstklassig, und hätten mich nicht meine Träume mit den Bildern dieses Tieres aus Oscars Geschichte geplagt, ich hätte eine sehr angenehme Nacht in ihrem Dachzimmer verbracht.
Das Glück war gegen mich. Den ganzen nächsten Tag herrschte ein schrecklicher Sturm. Solomon schickte mir aus der Blauen Forelle, wo er übernachtet hatte, eine Nachricht, dass wir erst aufbrechen würden, sobald der Sturm nachließe. Der heulende Wind und der peitschende Regen setzten dem Ort bis zum späten Nachmittag zu. Es war deprimierend, aber Perigoe kümmerte sich um mich. Und ich nahm die Gelegenheit wahr, in ihren Büchern zu stöbern. In einem Regal sah ich viele der Bücher, die auch ich früher in meiner Bibliothek besessen hatte. Zweifellos waren inzwischen alle verkauft – dank Badlesmire und seines grobknochigen Partners –, und das machte mich traurig. Meine Stimmung hob sich jedoch, als ich einen schmalen Gedichtband von Beag Hickory entdeckte. Auch ein anderes Buch fiel mir ins Auge: Mythen und Folklore, Flora und Fauna des alten Eichenwalds. Ich kaufte es und Perigoe ließ es mir freundlicherweise für einen ermäßigten Preis. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich könnte es vielleicht gut gebrauchen.
Am frühen Abend flaute der Sturm ab und Solomon fuhr mit der reparierten Kutsche vor. Er war ungeduldig und wollte losfahren – nicht so sehr, um meinen Bestimmungsort zu erreichen, sondern um schnell in die Stadt zurückkehren zu können. Perigoe drückte mich herzlich und übergab mir das in Öltuch gewickelte und verschnürte Bücherpaket für Lady Mandible. (Die Lady, so erzählte sie mir, bestellte immer ziemlich sonderbare Titel.) Zum Abschied schenkte mir Perigoe den Band mit Beag Hickorys Gedichten. Ihre Liebenswürdigkeit ließ mich meine düstere Stimmung vergessen, für einen Augenblick wenigstens.
»Pass gut auf dich auf«, ermahnte mich Perigoe. »Mit Lady Mandible sollte man sich lieber nicht anlegen. Sie hat ein silberhelles Lachen, sagt man, aber eine Hand aus Stahl, die in einem Samthandschuh steckt.«
Doch Lady Mandible interessierte mich nicht, nur Baron Bovrik. Ich stieg in die Kutsche und Solomon öffnete die Luke im Dach und sah mit trüben, blutunterlaufenen Augen zu mir herunter. »Bist du sicher, dass du weiterfahren willst?«, fragte er umständlich. »Ich kann dich jederzeit in die Stadt zurückbringen.«
Ich dachte an Papa in dem flachen Armengrab.
»Ja«, sagte ich. »Ich bin sicher.«
Solomon hatte mir versichert, dass wir Withypitts Hall in einigen Stunden erreichen würden. Um mir die Zeit zu vertreiben und um mich von trüberen Gedanken abzulenken, kramte ich Mythen und Folkloreaus meiner Tasche. Ich hatte schon oft von dem legendären Waldschwein mit dem Borstenrücken gehört und wollte gern mehr darüber erfahren. Ich las, dass dieses Schwein von einer recht interessanten Nahrung lebte, was ich mir mit Blick auf meinen Racheplan merken wollte. Die Vorstellung, dass mein Plan allmählich Formen annahm, versetzte mich geradezu in Aufregung. In diesem Augenblick allerdings unterbrach ein gewaltiger Donnerschlag meine Lektüre und unter der Wucht der zusammenprallenden Wolkenmassen erbebte der Boden. Ich war so vertieft in mein Buch und meinen Plan gewesen, dass ich von dem zurückkehrenden Sturm gar nichts bemerkt hatte. Gleißende Blitze erhellten den Himmel. Als mit jedem Windstoß die Kutsche wild in der Federung schaukelte, wurde die Qualität der Reparaturarbeiten auf eine harte Probe gestellt. Ebenso der Mut der Pferde. Ich musste mich krampfhaft bemühen, nicht durch die Tür hinausgeschleudert zu werden.
Als ich einmal einen Blick aus dem Fenster wagte, sah ich, dass wir nur wenige Zentimeter an einem steil abfallenden Berghang entlangfuhren. In den kurzen Pausen zwischen Donner und Blitz hörte ich Solomon abwechselnd mit der Peitsche knallen und auf die Pferde fluchen. Ich wickelte mich fester in meinen Umhang, kauerte mich auf meinem Sitz zusammen und betete inbrünstig, dass wir sicher in Withypitts Hall ankommen würden. Gerade als ich dachte, dass mich die Angst inzwischen so dicht an den Rand des Todes gebracht hatte, wie es in lebendigem Zustand überhaupt nur möglich sein kann, kam die Kutsche schwankend zum Stehen.
Solomons Gesicht erschien in der Dachluke. Es war nass, die Wangen waren gerötet. »Weiter komm ich nicht«, schrie er über das Heulen des Sturmes hinweg. »Du musst das letzte Stück zu Fuß gehen.«
Ich zog mir die Mütze so fest auf den Kopf, dass sie über den Ohren spannte. Das Bücherpäckchen unter dem Arm und meine Tasche über der Schulter, öffnete ich die Tür. Als es mir mit großer Mühe gelungen war, sie gegen den Wind aufzustemmen, sprang ich hinaus und versank augenblicklich bis über die Knöchel in kaltem, zähem Morast. Ich spürte das eisige Wasser durch die Nähte meiner Schuhe dringen. Fluchend und frierend arbeitete ich mich auf festeren Boden vor und nahm den vor mir liegenden Weg in Augenschein.
Zuerst sah ich überhaupt nichts. Der Mond war hinter den aufgeblähten Wolken verschwunden und im prasselnden Regen ließ sich kaum etwas erkennen. Als in diesem Moment ein Blitz den tintenschwarzen Himmel zerriss, blieb mir fast das Herz stehen. In seinem weißen Licht sahen meine ungläubigen Augen eine weitläufige gezackte Silhouette auf einer massigen Felsnase – es sah aus wie eine Versammlung dicht zusammenhockender Teufel. Ihre Hörner waren die Türme und die Lichter in den Fenstern ihre bösartigen roten Augen.
»Tartari flammis!«Ich atmete tief ein und brachte kein Wort hervor. Das Monstrum vor mir war Withypitts Hall!
»Das ist Wahnsinn!«, schrie Solomon. »Fahr mit mir zurück! Noch ist es nicht zu spät.«
Ich wollte antworten, aber der Sturm drückte mir die Worte ins Gesicht zurück, und so schüttelte ich nur den Kopf. Solomon zog in hilfloser Fassungslosigkeit die Schultern hoch. Er klopfte mir auf die Schulter, wünschte mir Glück und schwang sich wieder auf den Kutschbock. Noch einmal starrte ich auf das Gebäude, das sich so drohend vor mir abzeichnete, und als ich mich umdrehte, hatte die Kutsche bereits gewendet und fuhr rasch bergab. Nun blieb mir nichts übrig, als weiterzugehen.
Ich kam nur mühsam voran, stolpernd, rutschend, schlitternd, und innerhalb von Minuten war ich nass bis auf die Haut. Auf diese Weise muss ich wohl eine halbe Stunde gegen den Sturm angekämpft haben, ehe ich endlich die riesigen Eisentore vor dem breiten, mit Kies bestreuten Zufahrtsweg zum Haupteingang erreichte. Die ab und zu aufflackernden Blitze ließen mich jeweils nur wenige Sekunden lang etwas erkennen, sodass ich den vollen Umfang des Gebäudes nur in Intervallen sehen konnte: die sechs großen Türme, die hohen, schmalen bleiverglasten Fenster mit ihren gewölbten Aufsätzen und den schlanken, spitzen Türmchen, auf denen grinsende Teufel saßen, und dann die Dachkante, die von fratzenhaften Wasserspeiern gestützt wurde.
Ich war inzwischen kurz vorm Umfallen und stolperte erschöpft die Treppe hinauf. In der Mitte der Eichentür befand sich ein riesiger Messingklopfer in Form eines Hundekopfes. Mit letzter Kraft hob ich ihn mit beiden Händen an und ließ ihn auf das uralte Holz der Türfüllung krachen. Der Schlag hallte durch das ganze Haus und wurde augenblicklich von einem misstönenden Konzert heulender Hunde beantwortet. Dann wieder glaubte ich, daneben auch einen anderen Ton zu hören, nicht von einem Tier und nicht von einem Menschen, sondern eine Art Melodie, eine hohe, klagende Weise, die aber bald vom Wind verschluckt wurde.
Endlich, mit scheußlichem Ächzen, wurde die Tür geöffnet. Ein knochendürrer Mann ragte vor mir auf und musterte ausdruckslos meine durchnässte Gestalt. Seine krankhafte Blässe erinnerte an eine Pflanze, die nie die Sonne gesehen hat.
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