»Mein Glück ist gemacht«, freute sich Jeremiah. »In diesem Buch stehen Geheimnisse, auf die wäre ich nicht mal im Traum gekommen! Und nicht nur welche aus Pagus Parvus. Von überall her. Na, und erst Dr. Mouldered! Nein, nein, wer hätte das gedacht!«
Tief befriedigt klappte er das Buch zu, da flatterte eine einzelne Seite zu Boden und blieb neben seinen Füßen liegen. Jeremiah, der jetzt schwer atmete, beugte sich vor, hob das Blatt auf und hielt es ins Licht. Eine unregelmäßig gezackte Kante ließ darauf schließen, dass die Seite vor Kurzem aus einem anderen Buch gerissen worden war. Sie zeigte eine kunstvolle, handkolorierte Zeichnung.
»Frösche?«, prustete Jeremiah geringschätzig und las neugierig die Bildunterschrift. Nur wenige Sekunden darauf sank er jämmerlich stöhnend in seinen Sessel zurück.
»Was hat er getan?«, wimmerte er. »Dieser große doppelzüngige Teufel hat mich ausgetrickst!«
In seinen Händen pochte und brannte der Schmerz. Seine Bewegungen wurden schwerfälliger. Eine schleichende Taubheit breitete sich in den Armen und im ganzen Körper aus. Die Brust wurde ihm eng, die Kehle schwoll an. Das Atmen fiel immer schwerer. Und als er den Jungen sah, der plötzlich aus dem Halbdunkel auftauchte und auf ihn zukam, konnte er nicht einmal seine Überraschung ausdrücken.
»We-wer ist d-da?«, stammelte er heiser.
Der Junge antwortete nicht, er warf nur einen Blick auf den Sterbenden, dann bückte er sich und hob das Buch vom Boden auf.
»Wer hat Euch das angetan?«, flüsterte der Eindringling.
Lautlos, mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung formten Jeremiahs Lippen ein Wort.
Der Junge schüttelte den Kopf und ging.
Kapitel 35

Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
Kaum war Jeremiah verschwunden, drehte ich mich zu Joe um. Noch immer konnte ich mir sein Verhalten nicht erklären. Ich wusste nur, dass er Jeremiah mit seinem kostbarsten Besitz hatte gehen lassen.
Nein, dachte ich, auch mit meinem kostbarsten Besitz.
Dieses Buch war ein Teil meines Lebens geworden. Ich konnte mich nicht zurückhalten und schlug mit den Fäusten auf Joes Brust, blind vor Wut und Enttäuschung.
»Warum habt Ihr ihn einfach so gehen lassen? Ihr wisst genau, wie er das Buch benutzen wird!«
Joe schob mich behutsam von sich weg, sein Lächeln machte mich nur noch wütender. »Beruhige dich, Ludlow. Verstehst du nicht? Das ist das Ereignis, auf das wir gewartet haben.«
Er goss sich noch einen Schnaps ein (nie hatte ich ihn mehr als einen trinken sehen), legte den Kopf in den Nacken und leerte das Glas in einem Zug.
»Ich muss sagen, der Kerl hat mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Ich habe schon vor Tagen mit seinem Besuch gerechnet, das hätte uns eine Menge Ärger erspart. Er hat sich wirklich Zeit gelassen.«
Ich verstand nichts, ich war wütend, Fragen brannten mir auf der Zunge, und ich war fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden.
»Wollt Ihr damit sagen, Ihr habt gewollt , dass Jeremiah das Buch stiehlt?«
»Nicht ich«, sagte Joe. »Jeremiah hat es gewollt. Er hat ganz so gehandelt, wie es seinem Wesen entspricht. Dieser Mann kann es nicht ertragen, wenn andere besitzen, was er haben will.«
»Ihr sprecht schon wieder in Rätseln. Sagt mir doch einfach, was hier gespielt wird. Ich finde, ich habe es verdient, die Wahrheit zu erfahren.«
»Was möchtest du wissen, Ludlow? Was meinst du, dass ich dir verschweige?«
Seine Ruhe nahm mir den Wind aus den Segeln. Meine Wut verrauchte und ich wurde nervös. »Vieles. Ihr habt gesagt, Leute zu erpressen sei nicht Eure Sache, und doch wolltet Ihr Euch Jeremiahs Geheimnis anhören, genau wie Polly es vorgeschlagen hat. Hättet Ihr ihm etwa auch Geld gegeben?«
Leicht empört sah Joe mich an. »Ich hätte etwas Besseres von dir erwartet als einen solchen Vorwurf. Trotz all seiner Fehler muss doch auch Jeremiah die Chance haben, sich seine Sorgen von der Seele reden zu können – genau wie alle anderen. Meinst du, seine angeborene Grausamkeit kann ihn vor Schuld-und Reuegefühlen bewahren? Ich musste ihm die Gelegenheit geben. Das gehört zu meinem Tun.«
»Gelegenheit wozu?«
»Zu sagen, dass es ihm leidtut.«
»Und dann? Wenn er es bedauert hätte?«
»Nun, wenn er mir tatsächlich ein Geheimnis mitgeteilt hätte, hätte ich ihn bezahlen müssen. Regeln sind Regeln, man muss sie einhalten. Dann wäre freilich alles ganz anders gekommen. So aber hat er sich selbst die Schuld zuzuschreiben.«
Verzweifelt sprudelte ich heraus: »Aber was sind das für Regeln, nach denen Ihr lebt?«
Er sagte nichts.
»Wer seid Ihr, Joe?«
»Du wirst die Wahrheit erfahren, Ludlow, das verspreche ich dir«, sagte er endlich. »Im Moment ist es wichtiger, dass du das Buch zurückholst.«
Ich lachte spöttisch. »Und wie soll ich das anstellen?«
»Du wirst schon eine Möglichkeit finden, aber beeil dich besser. Er muss schon den halben Berg hinunter sein.«
»Ihr kommt nicht mit?«
Joe schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Rolle gespielt. Jetzt bist du an der Reihe.«
Resigniert streckte ich die Hände aus, verschwendete aber nun keine Sekunde mehr. Was ich Joe noch sagen wollte, konnte vorerst warten. Er hatte recht. Ich musste das Schwarze Buch zurückholen. Die Geheimnisse des ganzen Dorfes standen darin, auch solche aus anderen Gegenden. Die von Perigoe, Horatio und Obadiah kannte Jeremiah bereits, aber was war mit all den anderen? Es gab so viele Geheimnisse. Ich begriff, dass ich dieses ganze Geschäft bis jetzt für eine Art Spiel gehalten hatte, das Joe und ich mit den Dorfbewohnern gespielt hatten – wir alle gegen Jeremiah Ratchet. Aber es war längst kein Spiel mehr. Es war todernst. Ich hatte ihre Geständnisse aufgeschrieben, und nun war es meine Pflicht, sie in Sicherheit zu bringen.
Ich stürmte also aus der Tür, schlitterte und rutschte die Straße hinunter, ich verwünschte sowohl Jeremiah als auch Joe und wurde von tiefen Zweifeln gequält. Vielleicht lag Job Wright gar nicht falsch. Vielleicht benutzte Joe das ganze Dorf, und ich war zu blind gewesen, es zu bemerken? Ich hatte mich in meiner Sehnsucht nach einem richtigen Vater so selbstsüchtig an dieses neue Leben geklammert, dass mir gar nicht aufgefallen war, was vor meinen Augen passierte. War das nun die Strafe dafür, dass ich angenommen hatte, was mir nicht zustand? Trotzdem ergab das alles keinen Sinn.
»Es geht nicht um Geld«, sagte ich in die Nacht. »Es muss um etwas anderes gehen.«
Jeremiah war schon im Haus, hatte aber in seiner Eile die Tür nicht ganz geschlossen. Ich schlich mich in die Eingangsdiele und folgte den nassen Fußspuren bis in Jeremiahs Arbeitszimmer. Unmittelbar hinter der Tür kauerte ich mich auf den Boden und sah zu, wie er sich in einem Sessel niederließ. Irgendwo in der Nähe stand Fleischpastete, ihr Duft ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Einen Plan hatte ich noch nicht. Mein Herz klopfte so laut, dass ich befürchtete, es könnte mich verraten. Ich sah Jeremiahs Kopf, ich hörte, wie er Seiten umblätterte. Bald würde es zu spät sein, und er würde alles wissen. Dann hörte ich, wie er das Buch zuklappte, und ich sah eine lose Seite zu Boden flattern. Er beugte sich vor und hob sie auf. Er murmelte etwas, dann stöhnte er und sank in seinem Sessel zurück. Jetzt konnte ich nur noch sein lautes, keuchendes Atmen hören.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich wartete, bevor ich auf Zehenspitzen zu ihm hinging. Er saß so still da, dass ich dachte, er sei eingeschlafen. Ich stellte mich direkt vor ihn hin. Seine Augen waren weit aufgerissen, und einen Moment dachte ich, er wollte nach mir greifen, aber er saß einfach nur da – ein schrecklicher Anblick. Sein Gesicht war weiß, sein Atem ging stoßweise und rasselnd. Ich ahnte, dass ich vor einem Sterbenden stand.
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