Das Schauspiel dauerte keine Minute, dann sah sich Jeremiah gezwungen aufzugeben. Er ließ sich mit dem Rücken an der Wand zu Boden gleiten, wo er in höchst unwürdiger Position sitzen blieb, Beine gespreizt, Mund weit offen. Sein Gesicht war puterrot angelaufen, die Augen traten fast aus den Höhlen, und seine Lunge rasselte bei jedem Atemzug.
Joe stand über ihm, die Kleider unordentlich verrutscht, das Haar wilder denn je. Spinnenartig tanzte sein Schatten an der Wand. Ich rappelte mich auf und ging zu ihm.
»Ich muss doch Einspruch erheben gegen Euer Benehmen, Mr Ratchet«, sagte Joe tadelnd. »Von einem Mann Eures Ansehens hätte ich das nicht erwartet.«
Mühsam stand Jeremiah auf.
»Hört zu, Zabbidou«, sagte er, und jede Vortäuschung von Tränen und Reue war verschwunden. »Ihr scheint nicht zu begreifen. Ihr seid fertig hier. Die Dorfleute werden Euch holen und von hier verjagen. Aber bevor Ihr geht, will ich das Buch haben. Und ich bekomme immer, was ich haben will.«
Ich lachte. Armer Ratchet. Er selber war es, der nicht begriff. Nie würde Joe das Buch herausgeben.
»Ganz gewiss nicht«, sagte Joe. »Was in dem Buch steht, ist vertraulich, ich werde es nie aushändigen.«
»Ach, nun kommt schon, Joe«, beharrte Jeremiah, und Joe zuckte zusammen bei so viel plumper Vertraulichkeit. »Ziert Euch nicht so. Was nützt Euch das Buch noch? Warum wollt Ihr es mitnehmen, wo ich hier ordentlich Nutzen daraus ziehen kann? Wir sind doch beide Geschäftsleute, Zabbidou. Es zu behalten wäre schlichtweg boshaft von Euch.«
»Was würdet Ihr denn damit tun, Mr Ratchet?«, fragte Joe.
Überrascht sah Jeremiah auf. »Erpressung natürlich. Nur würde ich es schlauer anfangen als Ihr. Fünf Shilling an der Kirchentür? Nicht sehr anspruchsvoll, wenn ich das mal sagen darf.«
Mir blieb die Spucke weg bei so viel Dreistigkeit.
»Joe hat diesen Brief nicht geschrieben!«, fing ich an, aber wieder bedeutete mir Joe zu schweigen.
»Unter diesen Umständen, Mr Ratchet«, sagte er, »sehe ich mich nicht in der Lage, Euer Pfand anzunehmen. Ich glaube, Ihr müsst jetzt gehen.«
Jeremiah überraschte uns beide, indem er demutsvoll die Hände ausstreckte. »Wie Ihr wollt«, sagte er und ging lammfromm nach vorn in den Laden. Bei Salukis Glasbehälter blieb er stehen und legte die Hände auf den Deckel. Mein Mund wurde noch trockener. Was hatte er jetzt vor?
»Rückt das Buch heraus«, zischte er da plötzlich durch seine gelblichen Zähne. »Oder ich bring Euren kostbaren Frosch um.«
»Ich warne Euch«, sagte Joe ruhig. »Fasst den Frosch nicht an. Das hat er nicht gern.«
»Hat er nicht gern«, äffte Jeremiah ihn nach wie ein trotziges Kind. »Gebt mir das Buch, dann kommt es nicht so weit.«
»Fasst den Frosch nicht an!« Joes Stimme klang drohend.
»Ha!«, schrie Jeremiah, schleuderte den Deckel weg, griff in den Behälter und packte Saluki mit beiden Händen.
»Nein!«, schrie Joe, aber es war zu spät.
Jeremiah heulte auf und ließ den Frosch fallen. Mit einem dumpfen Laut landete Saluki auf dem Boden, wo sie reglos und leicht benommen sitzen blieb.
»Ich glaube, der Frosch hat mich gebissen«, sagte Jeremiah verwirrt, die Augen staunend aufgerissen. »Ich glaube, er hat mich gebissen.« Verzweifelt, doch immer noch nicht abgeschreckt, nahm er den Glasbehälter und hob ihn hoch über seinen Kopf.
»Gebt mir das verdammte Buch, oder der Frosch kriegt das hier ab!«
Joe und Saluki sahen ihn traurig an. »Glaubt mir«, sagte Joe und trat auf ihn zu, »es wird Euch nichts nützen.« Und damit überreichte er Jeremiah Ratchet das Schwarze Buch der Geheimnisse.
Triumphierend und mit glänzenden Augen griff Jeremiah danach. »Nun bin ich der Richter über diese Geheimnisse.«
Ohne ein weiteres Wort stapfte er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Saluki kletterte anmutig und mit wohlbemessenen Bewegungen auf den Ladentisch und zurück in ihren Behälter. Joe legte den Deckel darauf, warf ein paar Insekten ins Glas, und der Frosch fraß, als sei nichts geschehen. Und komisch, ich hätte nie gedacht, dass ein Frosch irgendwie zufrieden aussehen könnte, aber genau so sah Saluki in diesem Moment aus, das schwöre ich. Ihre Farben leuchteten so intensiv, dass sie fast den Raum erhellten, und ihre klugen Augen schienen zu sagen: »Du bist gewarnt worden, Ratchet, du bist gewarnt worden.«
Kapitel 34

Abgang
Jeremiah Ratchet war hell entzückt. Am liebsten wäre er gehüpft und gesprungen, aber die vereiste Straße ließ nur vorsichtige kleine Schritte zu. So schlug er stattdessen die Faust in die Luft und schrie ein ums andere Mal: »Ha! Ha!«
Er war höchst zufrieden mit sich. Seine Vermutung, dass das Schwarze Buch der Schlüssel war, hatte sich bewahrheitet. Dass er es nun besaß, machte seine heutige Demütigung in der Sache mit Horatio und dem Truthahn fast wett. Wäre es nämlich nicht zu dieser Auseinandersetzung gekommen, hätte er nie erfahren, was es mit diesem Buch auf sich hatte. Nachdem er mit dem Truthahn nach Hause gekommen war, hatte er die Leute, und besonders Joe und Ludlow, vom Fenster aus beobachtet. Er hatte alles gehört, jedes Wort. Was waren sie doch für Einfaltspinsel, diese Dorfleute, dass sie Joe Zabbidou ihre Geheimnisse anvertrauten. Aber genau dadurch war ihm seine Idee gekommen: Er würde vortäuschen, selber ein Geheimnis verpfänden zu wollen, und sich auf diese Weise das Buch verschaffen. Was er aus den Gesprächen in der Blauen Forelle erlauscht hatte, war dann nur noch das i-Tüpfelchen auf seinem Plan gewesen. Wie dumm von Joe, diesen Erpresserbrief loszulassen. Damit hatte er seine Chancen im Dorf verspielt und gleichzeitig Jeremiah einen großen Gefallen getan. Hätten nämlich die Dorfleute Joe erst mal verjagt, wäre es zu spät gewesen. Nun aber war Jeremiah im Besitz des Schwarzen Buches, mit dessen Hilfe er seine rechtmäßige Machtstellung in Pagus Parvus zurückgewinnen würde.
Wenn er ehrlich war, hatte er tief im Innern nie geglaubt, dass es so einfach sein würde, sich das Schwarze Buch der Geheimnisse anzueignen. Aber wer hätte auch gedacht, dass Joe es freiwillig hergeben würde, nur um seinen kostbaren Frosch zu retten? Jeremiah strotzte vor Selbstgefälligkeit.
So leise es ihm in seiner Freude möglich war, betrat er sein Haus und merkte nicht, dass er die Tür nicht richtig hinter sich geschlossen hatte. Er bemerkte auch nicht die schmächtige Gestalt, die ihm nachgeschlichen war und ihm nun in sein Arbeitszimmer folgte. Der heimliche Eindringling kauerte sich in die dunkelste Ecke und beobachtete und wartete. Der Vollmond warf sein milchig schimmerndes Licht durchs Fenster. Es erhellte die Uhr auf dem Kaminsims: Viertel nach drei. Jeremiah zog seinen Mantel aus und ließ ihn zu Boden fallen, den Hut warf er in eine Ecke. Bei jedem Schritt fiel Schnee von seinen Stiefeln und zerschmolz in dunklen Flecken auf dem Teppich. In wildem Triumph hob Jeremiah seine Beute hoch, und das rote Seidenband zwischen den Seiten flatterte.
»Denen werd ich’s zeigen!« Er lachte und schwenkte das Buch durch die Luft. »Sie werden alle büßen für ihren Verrat.«
Jeremiah trat vor das allmählich verlöschende Kaminfeuer und machte es sich in einem seiner teuren Ledersessel bequem. Flüchtig blickte er auf die Worte auf dem Bucheinband, und weil er nichts damit anfangen konnte, schlug er das Buch auf und legte es auf seinen Schoß. Er leckte die Kuppe seines dicken Zeigefingers ab und blätterte mit sichtlichem Vergnügen in den Seiten, erst langsam, dann immer schneller. Er zitterte, er kicherte, er rief mehr als einmal: »Großer Gott!«, und immer wieder hielt er inne, um sich die Hände zu reiben. Das tat er jedoch nicht vor lauter Freude, sondern um den Schmerz in den Händen zu lindern. Salukis Biss, wenn es denn tatsächlich ein Biss gewesen war, erwies sich als fast so lästig wie sein Besitzer.
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