Dann machte sie den Mund auf und zischelte durch ihre schmalen Lippen: »Du dreckige Lügnerin! Du miese Betrügerin! Du hältst mich wohl für eine Närrin? Du denkst, weil ich an Krücken gehe, habe ich Federn im Hirn?«
Ich war ertappt. Ich stand auf und versuchte, die Frau in ihrer wachsenden Wut zu beschwichtigen.
»Möglich, dass ich mich geirrt habe. Lasst noch mal sehen.« Aber es war zu spät. Da war nichts mehr zu retten.
»Das Buch ist ein Vielfaches wert von dem, was du mir geboten hast! Du hast mich beleidigt, und du beleidigst mich ein zweites Mal! Eine Gaunerin bist du, weiter nichts. Gib’s her!«
Mit ausgestrecktem Arm griff sie nach dem Buch, und ich konnte nichts anderes mehr denken, als dass mein Traum wie eine Seifenblase zerplatzte.
»Ich gehe damit woandershin«, sagte sie und zerrte weiter an dem Buch. »Zu jemandem, der Anstand im Leib hat.«
»Es tut mir leid!«, rief ich, den Tränen nahe. »Ein Moment der Schwäche. Ich bin nur ein Mensch, ich habe mich verleiten lassen.« Immer noch hielt ich das Buch fest. Ich brachte es einfach nicht über mich, lozulassen.
»Pah«, fuhr sie mich an. »Von dir habe ich genug gehört.«
Wir zogen und zerrten das Buch über die Tischplatte hin und her. Zuerst war sie im Vorteil, dann ich, bis ich es nach einem kräftigen Ruck endlich ganz in der Hand hatte. Die alte Frau kippte nach hinten, und entsetzt sah ich, dass sie mit dem Hinterkopf gegen die Armlehne des Sessels schlug und wie ein Kleiderbündel auf den Boden sank. Ich stürzte zu ihr, ging in die Knie und beugte mich über ihren Mund, um festzustellen, ob sie noch atmete.
Sie zischelte in mein Ohr: »gatnnoS ma nreg efahcS eniem erehcs hcI.«Dann hauchte sie ihren letzten Atem auf meine Brillengläser und starb.
»Oh Gott im Himmel«, flüsterte ich. »Was soll ich jetzt tun?« Normalerweise stirbt ja kein Kunde in meinem Laden, und ich wusste nicht, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Während ich noch hin und her überlegte, flüsterte mir die Stimme des Teufels ins Ohr – es kann wirklich nur der Teufel gewesen sein.
»Nimm das Buch«, raunte er. »Nimm das Buch! Wer erfährt es schon?«
Gern würde ich sagen, dass ich mit ihm gestritten habe, dass ich eine Diskussion anfing über das Sündhafte seines Vorschlags, aber es wäre nicht die Wahrheit. Nein, ich nahm das Buch und steckte es hinter Gibbons »Aufstieg und Fall des Römischen Reiches«auf ein hohes Regalbrett über dem Schreibtisch. Als ich mich umdrehte, sah ich mit Schrecken, dass in der offenen Tür Jeremiah Ratchet stand. Und ich hatte keine Ahnung, wie lange schon.
»Meine liebe Perigoe«, sagte er, »was treibt Ihr denn da, um Himmels willen?«
»Sie ist in meinem Laden gestorben«, jammerte ich. »Einfach zusammengebrochen.«
»Das sehe ich«, sagte er.
Dr. Mouldered kam, Ratchet hielt sich im Hintergrund und ließ sich nichts entgehen. Ich fühlte mich mehr als unwohl in seiner Anwesenheit.
»Herzversagen«, erklärte Mouldered nach kürzester Untersuchung. Ratchet ließ sein lautes verächtliches Schnauben hören, und Mouldered schloss seine Tasche und machte sich schleunigst davon. Zu meiner großen Erleichterung kamen kurz darauf die Leute vom Bestattungsunternehmen, die Leiche wurde weggeschafft, und Jeremiah ging.
Als es endlich dunkel geworden war, hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte das Buch verkaufen, nur vorsichtig musste ich sein. Man konnte nicht wissen, wem die alte Frau von dem Besitz des Buches erzählt hatte. Ich hatte gehört, in der Stadt gebe es jemanden, der mir einen guten Preis für dieses Buch zahlen würde und dem ich vertrauen könnte, dass er meine Identität nicht preisgab. Zu Ruhm und Ansehen würde ich auf diese Weise natürlich nicht kommen, aber das war nur ein kleiner Verzicht. Wenn ich sofort aufbräche, könnte ich vor der Morgendämmerung zurück sein, und niemand würde etwas bemerken. Ich verbarg also das Buch unter meinem Umhang, ging hinaus – und lief geradewegs Jeremiah Ratchet in die Arme.
»Meine liebe Perigoe«, sagte er in seiner schmierigen Art, »ich möchte ja zu gern wissen, welches Geschäft Euch um diese Nachtzeit aus Pagus Parvus treibt.«
»Das ist meine Sache«, antwortete ich heftig. »Geht aus dem Weg und lasst mich vorbei.«
Er blieb stehen, wo er war. »Ich habe mir so meine Gedanken gemacht über das, was heute Abend passiert ist. Der Tod dieser armen, unglücklichen Frau, das Buch …«
»Das Buch?«
»Es hat seinen Preis, Geheimnisse für sich zu behalten.«
Sein Ton machte mir Angst. »Was wollt Ihr damit sagen, Mr Ratchet?«
»Ich will sagen, dass Ihr Euch wahrscheinlich gerade in die Stadt aufmachen wollt, um das Buch zu verkaufen, dasselbe Buch, das Ihr der alten Frau heute Nachmittag gestohlen habt. Ihr wollt es für gutes Geld verkaufen und alles für Euch allein behalten.«
»Ich weiß von keinem Buch, Mr Ratchet.«
»Nun«, sagte Jeremiah, »dann haben wir ein Problem. Falls Ihr nämlich das Buch nicht findet – ich weiß genau, dass es da ist –, sehe ich mich gezwungen, dem Friedensrichter etwas zu melden. Und zwar, dass ich beobachtet habe, wie die Frau von Eurer Hand zu Tode kam. Ihr wisst, darauf steht Tod durch den Strang. Wegen Mord.«
»Mord?«
»Ich habe alles gesehen«, erklärte Jeremiah. »Ich habe gesehen, wie Ihr die alte Frau überfallen und zu Boden gestoßen habt, nur um ihren sterbenden Händen dieses Buch zu entreißen.«
»So war es nicht!«, protestierte ich, aber Jeremiah lachte nur.
»Überlegt Euch gut, was ich gesagt habe, Mrs Leafbinder. Ich bin überzeugt, Ihr werdet Euch schnell meiner Auffassung der Dinge anschließen.«
Ich schäme mich, gestehen zu müssen, dass ich den doppelzüngigen Schuft einen Augenblick lang verwünschte, aber ich kann auch sehr wohl einschätzen, wenn ich mich geschlagen geben muss.
»Was wollt Ihr also, Mr Ratchet?«, fragte ich schließlich.
»Ganz einfach, meine Liebe. Ich wünsche jederzeit freien Zugriff auf Eure Bücher und außerdem eine geringe Bezahlung, sagen wir fünf Shilling wöchentlich.«
»Und das Buch?«
Er tat, als würde er sich die Sache durch den Kopf gehen lassen. »Tja, ich könnte es natürlich in die Stadt bringen, aber ich denke, damit warte ich noch. Vielleicht bekomme ich nach ein paar Jahren den vollen Preis dafür. Wenn Ihr inzwischen so gut sein wollt, mir das Buch zu geben, werde ich es sicher aufbewahren.«
Was für ein herzloser Sadist dieser Mann war! Mir blieb nichts übrig, als auf seine Bedingungen einzugehen. Er würde, ohne zu zögern, direkt zum Friedensrichter laufen, und der würde für Geld zweifellos alles glauben, was Ratchet ihm eingab. Und ich käme wegen Mordes an den Galgen.
»Ich komme also am Freitag wieder wegen meiner Bezahlung«, sagte er und ging mit dem wertvollen Buch unter dem Arm davon.
Unnötig zu sagen, dass er sein Wort gehalten hat. Jeden Freitag holt er sein Geld ab und nimmt mit, was ihm sonst noch gefällt. Was »Die Einsamkeit des Bergschäfers«angeht, nun, ich liege jede Nacht im Bett und verfluche tausendmal meine Gier und meine Dummheit. Unterdessen ruiniert Jeremiah mein Geschäft.
Ich kann nicht ändern, was ich getan habe, Mr Zabbidou, und ich bedauere es. Ich möchte nur wieder schlafen können, vergessen können.

Ludlow legte die Feder weg, schob einen Bogen Löschpapier zwischen die Seiten und klappte das Buch zu.
Joe nahm Perigoes kalte Hand.
»Ihr werdet wieder schlafen«, sagte er. »Nun ist Euer Geheimnis gut aufgehoben.«
»Und was ist mit Ratchet?«, fragte Perigoe, und ein Zittern lag in ihrer Stimme. »Er hat das Buch immer noch.«
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