»Ihr meint, die Tote war nicht seine Mutter?«
Mr Cruickshank schüttelte den Kopf. »Seine leibliche Mutter starb, als er noch ein Junge war, und sein Vater hat wieder geheiratet. Die hübscheste Frau, die ich je gesehen habe, aber sie war fast vierzig Jahre jünger als er. Ich weiß nicht, was sie an ihm fand.«
Ich dankte Mr Cruickshank für seine Zeit und machte mich auf den Weg, noch unruhiger als vorher. Meine Neugier war befriedigt, aber meine Bedenken nicht zerstreut worden. Wie ich mir vorgenommen hatte, ging ich anschließend zum Apotheker, um eine Arznei gegen Husten zu kaufen. Kaum hatte ich den Laden betreten, überwältigte mich ein starker, unverwechselbarer Geruch, und ich blieb wie angewurzelt stehen. Es war derselbe Geruch, den ich im Keller des Gutshauses wahrgenommen hatte. Als der Apotheker die Ladenglocke bimmeln hörte, kam er aus dem hinteren Raum.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte ich rundheraus.
»Ah«, sagte er verschwörerisch. »Das ist ein ganz besonderes Schlafmittel, eine meiner Eigenmischungen. Hochwirksam, sehr stark. Es versetzt einen Menschen in Tiefschlaf, wobei die betreffende Person fast leblos aussieht und keinerlei Schmerzempfindung hat. Ich denke, Krankenhausärzten wird dieses Mittel bei Operationen sehr hilfreich sein.«
»Sagt mir«, fuhr ich mit klopfendem Herzen fort, »kennt Ihr einen Dr. Sturgeon?«
»Einer meiner besten Kunden«, sagte der Apotheker stolz. »Er schwört auf dieses Mittel, er sagt, es sei das beste und einzige gegen seine Schlaflosigkeit gewesen.«
Ich nahm meinen Hustensaft und machte mich schweren Herzens auf den Heimweg. Nun kannte ich das wahre Ausmaß der Täuschung, in die ich unwissentlich hineingezogen worden war. Was für ein vertrackter Plan! Nur ein teuflisches Gehirn konnte ihn ersonnen haben. Wie soll man schließlich einen Geist wegen Mordes vor Gericht bringen?
Ihr müsst wissen, Mr Zabbidou, ich stelle es mir so vor: Der junge Doktor verabreichte der Frau seines Vaters das Schlafmittel und redete seinem Vater ein, sie sei gestorben. Dann ließ er sie in dem von mir angefertigten Sarg beerdigen. Durch das Rohr konnte sie weiteratmen, und als die Wirkung des Schlafmittels nachließ und er sie in der Nacht des Beerdigungstages aus dem Grab befreite, war sie quicklebendig. So lebendig, dass sie am Bett ihres Mannes erscheinen und ihn halb erwürgen konnte – wohl wissend, dass er ein schwaches Herz hatte. Auf diese Weise erbte der Doktor nicht nur das Anwesen seines Vaters, sondern auch dessen junge Frau. Zweifellos genießen die beiden jetzt die Früchte ihrer Gottlosigkeit in einem fernen Land.
Ich kann es mir nicht verzeihen, dass ich selbst eine Rolle bei diesem Plan gespielt habe. Ihr seid der einzige Mensch, Mr Zabbidou, der davon weiß. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass sonst noch jemand dahinterkommen könnte. Die Leute sagen, man kann Euch vertrauen, und ich glaube ihnen. Ich denke, jetzt kann ich wieder schlafen.
Kapitel 27

Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
Nachdem ich das Geheimnis des Sargmachers vorgelesen hatte, sahen wir uns schuldbewusst an.
»Der Arme«, sagte Polly leise. »Es war gar nicht seine Schuld.«
»Da steht noch was«, sagte ich. »Ganz unten auf der Seite.«
»Was?«
»Quae nocent docent . «
Polly sah mich verständnislos an.
»Ich glaube, das ist Latein.«
»Latein?«
»Eine andere Sprache. Joe benutzt sie manchmal. Er sagt, auf Latein kann man mit wenigen Worten mehr sagen. Und das gefällt ihm.«
»Dann frag ihn lieber nicht, was es bedeutet«, sagte Polly schnell. »Sonst weiß er, dass wir herumgeschnüffelt haben.«
Ich sagte nichts. Aber ich hatte so eine Ahnung, dass Joe ohnehin Bescheid wissen würde. Ich klappte das Buch zu und legte es beiseite.
»Ich will nichts mehr hören«, sagte Polly, und ich war erleichtert.
So saßen wir da und warteten darauf, dass der Sturm nachließe: nur wir zwei, in Decken gehüllt vor dem Feuer sitzend und Suppe schlürfend. Ich glaube, wir wussten beide, dass es falsch gewesen war, in dem Buch zu lesen, doch Polly tat es mit einem Lachen ab.
»Er wird’s ja nie erfahren«, versuchte sie sich einzureden. »Mach dir nicht so viele Gedanken.«
Gegen Abend beruhigte sich der Wind, das Schneetreiben hatte nachgelassen. Polly stand auf und streckte sich. »Ich muss los«, sagte sie. »Mr Ratchet wird nach seinem Abendessen fragen.« Bevor sie ging, sah sie mich mit einem ängstlichen Blick an.
»Du sagst es ihm doch nicht, Ludlow?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn er dahinterkommt, sage ich, dass nur ich es war.«
Sie grinste. »Dir wird er verzeihen. Du musst ihn nur lange genug mit deinen großen grünen Augen anschauen.«
Irgendwie aber glaubte ich nicht daran, dass dieser Trick bei Joe funktionieren würde.

Nach vier Tagen war zwar die Schneefront vorübergezogen, doch immer noch war es dunkel, winterlich und sehr kalt. Ich hatte den Laden geöffnet. Die Stunden schleppten sich dahin. Ich fütterte Saluki, fegte den Boden und staubte die Sachen im Schaufenster ab. Zum Nachdenken hatte ich genügend Zeit, und bevor der vierte Tag zu Ende ging, war es mir gelungen, mich selbst zu überzeugen, dass ich mir wegen unseres heimlichen Lesens wirklich keine Sorgen machen musste. Schließlich war niemand zu Schaden gekommen. Wir hatten es ja auch nicht aus Bosheit getan, nur aus Neugier. Ganz hinten in meinem Kopf nagte die leise Ahnung, dass Joe mir eine Falle hatte stellen wollen. Der Gedanke, dass er mir nicht traute, verletzte mich, aber schlimmer fand ich, dass sein Misstrauen begründet schien. Aber war das etwa gerecht? Gab es irgendwo einen Menschen, der stark genug gewesen wäre, einem heimlichen Blick zu widerstehen?
In der Nacht bevor Joe zurückkam, war ich fast schon eingeschlafen, da glaubte ich draußen ein Geräusch zu hören. Ich öffnete die Tür zur Straße, aber da war niemand, nur Fußabdrücke im Schnee unter dem Fenster, große Fußabdrücke. Von wem sie stammten, erkannte ich nicht an der Größe, sondern an dem Geruch, der in der Luft hing: der Jeremiah-Ratchet-Geruch.
Am nächsten Morgen ließ Saluki ein durchdringendes Quaken hören, und einen Augenblick später polterte es an der Tür. »Ludlow!«, rief eine Stimme. »Lass mich ein.«
Es war Joe. Ich freute mich sehr, dass er wieder da war, und hoffte nur, dass ich mein schlechtes Gewissen vor ihm würde verbergen können. Er kam herein, ließ seinen Blick durch den Laden wandern und schlug mir auf den Rücken.
»Schön, dass du in meiner Abwesenheit den Laden in Schuss gehalten hast«, sagte er. Ich hatte natürlich darauf geachtet, dass alles ordentlich an seinem Platz lag.
»Hier gab es einen schrecklichen Sturm«, sagte ich, ohne zu überlegen. »Polly war vorbeigekommen und hat sich eine Weile zu mir ans Feuer gesetzt.« Das hatte ich ihm gar nicht sagen wollen, aber wenn Joe mich mit seinem gewissen Blick ansah, musste ich unweigerlich sagen, was ich gerade dachte. Ich starrte auf den Boden. Auf keinen Fall wollte ich noch mehr von meinen Gedanken verraten.
»Ich weiß«, erwiderte er.
»Ihr wisst es?« Hatte er meine Gedanken gelesen?
»Polly war gerade unterwegs zum Fleischer, da habe ich sie getroffen. Sie hat es mir erzählt.«
Mein Herz flatterte. Hoffentlich war das alles, was Polly erzählt hatte.
»Hat jemand geklopft?«, fragte Joe.
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