In seinem großartigen Speisezimmer aß er selten, gewöhnlich setzte er sich mit einem Tablett auf dem Schoß in sein Arbeitszimmer und nahm dort seine Mahlzeiten ein. Es war ein Raum von großzügigen Ausmaßen, nur schlecht beleuchtet, weil die Wände vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen zugestellt waren. Jedes Regal war bis zum Bersten voll und bog sich unter der Last stattlicher Bücherreihen. Jeremiah war ein Sammler. Er besaß gern Dinge, manchmal aus keinem anderen Grund, als sie zu besitzen. Ein großer Leser war er nicht; er fand die erforderliche Konzentration ziemlich anstrengend für seinen Kopf. Er hatte es sich zum Prinzip gemacht, sich nur solche Bücher ins Regal zu stellen, mit denen er andere Leute beeindrucken konnte, oder solche, deren Preis vermutlich steigen würde. Die Folge war, dass die meisten Bücher zu einer schwer verständlichen Ausdrucksweise neigten und dass es darin entweder um Fakten ging, die er nicht begriff, oder um Handlungen, die er nicht nachvollziehen konnte. Jeremiah war ein glänzendes Beispiel für einen Menschen, der von allem den Preis kannte, aber von nichts den Wert.
Nun saß er in seinem Arbeitszimmer, kaute auf einer Lammkeule herum und dachte an Joe Zabbidou. Dieser Mann war eine einzige Plage. Erst heute war Job Wright vor der Bäckerei auf ihn zugekommen und hatte ihm einen Beutel mit einer Geldsumme überreicht, die mehr als die Hälfte seiner Schuld ausmachte. Später dann, nach dem Mittagessen, hatte Polly ihm erzählt, sie habe im Fenster des Pfandleihers ein Paar Hufeisen gesehen, und da hatte Jeremiah gewusst, dass wieder einmal Joe Zabbidou am Werk gewesen war.
»Schöne Hufeisen sind es, sie glänzen richtig«, hatte Polly mit Unschuldsmiene gesagt. »Ich könnte mir denken, dass Joe gutes Geld dafür bezahlt hat.« Dann hatte sie sich schnell aus dem Staub gemacht, und Jeremiah war sicher, dass er sie auf dem Weg zur Küche hatte kichern hören.
»Gleich am ersten Tag hätte ich ihn rauswerfen sollen«, sagte er reuevoll. »Ich habe ihn zu lange gewähren lassen.« Doch selbst Jeremiah ahnte, dass ein Rauswurf gar nicht so einfach gewesen wäre.
Er hatte natürlich erkannt, dass es zwischen der plötzlichen Zahlungsfähigkeit seiner Pächter und dem Schaufenster des Pfandleihers einen direkten Zusammenhang gab. Er rechnete sich aber aus, dass Joe unmöglich jedermanns Schulden finanzieren könne, dass er früher oder später ruiniert sein würde und dass dann alles wieder so werden würde wie früher. Aber Joe handelte nicht nach den üblichen Zwängen der Geschäftswelt.
Erschöpft schüttelte Jeremiah den Kopf.
»Wie kann ein Mann zu Reichtum kommen, wenn er ein halbes Vermögen für wertlosen Ramsch zahlt?«, fragte er sich jeden Tag. Und jeden Tag wartete er gespannt auf Polly, die ihm immer die aktuelle Beschreibung des Schaufensters lieferte, sobald sie von Pfarrer Stirling zurückkam. Und Tag für Tag stürzten ihn diese Berichte in tiefere Verzweiflung. Wie hatte er es bedauert, Stirling um Hilfe gebeten zu haben, nachdem sich gezeigt hatte, dass dieser Kerl eine absolute Null war.
»Was soll ich bloß tun?«, stöhnte Jeremiah, als er seine Einnahmen immer mehr schwinden sah. Jeremiahs hoher Lebensstandard hatte seinen Preis. Er schuldete seinem Schneider Geld, seinem Hutmacher, seinem Perücken-und seinem Schuhmacher, und an die Summen, die er beim Kartenspiel verloren hatte, wollte er erst gar nicht denken.
Auf der Bank hatte er zum Glück noch Geld aus dem Erbe seines Vaters, doch das war im Lauf der Jahre rapide geschrumpft. Wenn die Schulden einmal beglichen waren, konnte er unmöglich von den Mieteinnahmen allein leben. Dann natürlich seine Erpressungen. Seit er Horatios kleines Geheimnis entdeckt hatte, gab es keinen Mangel an frischem Fleisch in seiner Küche. Und bis vor Kurzem waren da ja auch noch Obadiah und die Leichenräuberei gewesen. Doch leider sah es gerade in diesem Bereich nicht allzu gut aus, und das war nicht nur Joes Schuld. Jeremiahs Leichenräuber (die tagsüber auch als Verwalter auftraten, wenn Jeremiah Hilfe bei einer Zwangsräumung brauchte) hatten ihm die schlechte Nachricht erst unlängst überbracht.
»Leichen von alten Leuten wollen die Mediziner in der Stadt nicht mehr«, hatte einer der Grabräuber gesagt. »Sie wollen frische, junge.«
Jeremiah stöhnte. »Was denken die sich? Es gibt nun mal keine jungen Leichen in Pagus Parvus.«
»Das muss nicht unbedingt ein Problem sein …«, sagte der andere bedächtig.
»Wie meinst du das?«, hatte Jeremiah gefragt.
Die zwei Gauner wechselten vielsagende Blicke, was durch ihre schwarzen Gesichtsmasken nicht leicht war, dann brachen sie in ein heiseres Gelächter aus. »Mal angenommen, der junge Kerl da droben auf dem Berg, der im alten Hutladen … also, der wäre schon mal ein gutes Exemplar …«
»Ludlow?«, fragte Jeremiah. »Aber der ist doch gesund und munter.«
»Je knackiger, desto besser«, sagte der erste.
Tatsächlich zog Jeremiah flüchtig in Betracht, was die Kerle da andeuteten. Viele Male hatte er schon gewünscht, nie wieder Ludlows wissendem Blick begegnen zu müssen, doch ein hinterrücks geplanter Mord als Lösung dieses Problems war selbst Jeremiah zu ungeheuerlich.
»Nein, nein«, sagte er hastig. »Das wird sicher nicht nötig sein. Es muss andere Möglichkeiten geben. Wie steht’s mit Zähnen?«
»Zähnen?«
»Ich habe gehört, die lassen sich ganz gut verkaufen«, fing Jeremiah an, aber die zwei Männer lachten nur. »Na, dann eben nicht«, sagte Jeremiah enttäuscht.
Einträchtig zuckten beide Männer mit den Schultern. »Dann können wir nichts weiter für Euch tun. Gebt uns unser Geld und wir werden Euch nicht mehr behelligen.«
Und damit war die Angelegenheit zu Ende.

Jeremiah schob den Teller mit dem erst halb gegessenen Gericht beiseite und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er hatte keinen Appetit. Er war zu niedergeschlagen, um in seinen Büchern zu blättern; nicht einmal Die Einsamkeit des Bergschäfers konnte ihn fesseln – das war sein absolutes Lieblingsbuch, was wahrscheinlich daran lag, dass Schäfer einen eher begrenzten Wortschatz haben und ihre Geschichten schlicht erzählt sind.
Jeremiah war klar, dass sich für ihn noch viel mehr Probleme ergeben würden, falls Joe im Ort bliebe und so weitermachte wie bisher. Nein, er würde die Sache selbst in die Hand nehmen müssen.
»Pagus Parvus ist nicht groß genug für uns beide«, erklärte er den Schatten an der Wand. »Einer von uns muss gehen.«
Von Selbstmitleid erfüllt stieg er die Treppe hinauf und machte sich zum Schlafengehen fertig. Er konnte nicht widerstehen, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Das tat er inzwischen fast zwanghaft. Oben an der Straße konnte er den Laden des Pfandleihers erkennen, auch den Rauch, der sich jede Nacht bis in die frühen Morgenstunden aus dem Schornstein kringelte.
Was treibt der da oben?, fragte sich Jeremiah zum hundertsten Mal.
Noch immer war er nicht dahintergekommen, warum der Pfandleiher bis spät in die Nacht hinein Besucher empfing, und ihm fehlte die Fantasie, um selbst eine Erklärung dafür zu finden. Von irgendjemandem hatte er gehört, Joe würde den Leuten Ratschläge geben, aber mehr war nicht zu erfahren. Wie oft hatte er schon Polly gefragt, ob sie nicht wisse, was das alles zu bedeuten habe. Aber sie hatte ihn nur verständnislos angeschaut.
Wenn ich es wüsste, dachte Jeremiah, könnte ich ja vielleicht etwas dagegen tun. Doch was es auch für Geschäfte sein mochten, die nachts dort oben getätigt wurden, kein Mensch sprach je darüber. Da zog Jeremiah seine eigenen Schlüsse und erklärte es sich so, dass die ganze Geheimnistuerei Teil der Verschwörung gegen ihn sein müsse. Angesichts dieses Ergebnisses drängte es ihn nur umso mehr, die Wahrheit zu erfahren.
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