Damals, an dem ersten Morgen, hatte Stirling Joe Zabbidou und seinen jungen Gehilfen auf dem Friedhof gesehen, aber er hatte keine Lust gehabt, die neuen Mitglieder seiner Gemeinde förmlich zu begrüßen. Polly, die nach einer Übereinkunft zwischen Stirling und Jeremiah jeden Tag heraufkam, um bei ihm zu kochen und zu putzen, hatte ihm später erzählt, dass der Hutladen einen neuen Besitzer habe.
»Einen Hutmacher?«, hatte der Pfarrer gefragt.
»Nein, einen Pfandleiher.«
»Einen Pfandleiher?«
Polly antwortete nicht. Stirling hatte nämlich den Hang, eine Erklärung in eine Frage umzuwandeln, was er immer dann äußerst hilfreich fand, wenn er keine Antworten wusste. Er hatte diese Angewohnheit in einer früheren Pfarrei angenommen. Die Leute dort waren schrecklich wissbegierig gewesen, sie liebten ein lebhaftes Gespräch über Glaubensfragen und waren der festen Überzeugung, dass auch Stirling Vergnügen daran finden müsse.
»Ein Pfandleiher?«, wiederholte er. Er überlegte kurz, wie sich das auf seine Stellung im Dorf auswirken könnte, und kam zu dem Schluss, dass es wohl für ihn persönlich folgenlos sei. Im Grunde genommen glaubte er, dass Joes Ankunft hier überhaupt niemanden groß berühren würde. Er war deshalb verblüfft von dem Ausmaß an Feindseligkeit, das Jeremiah Ratchet dem Neuankömmling gegenüber empfand.
Es war später Nachmittag. Der Pfarrer saß in einem Sessel und döste vor sich hin, da riss ihn ein Poltern an der Tür jäh aus dem Schlaf. Polly öffnete, wurde aber zur Seite gestoßen, als Jeremiah schnurstracks an ihr vorbei ins Wohnzimmer stürmte.
»Jeremiah?«, sagte Stirling. »Freut mich. Haben wir denn schon Donnerstag?«
»Es ist Dienstag, aber ich habe eine wichtige Sache mit Euch zu besprechen.«
»Geht es um Obadiah und die Leichen?«
»Nicht um Obadiah. Um diesen verdammten Pfandleiher.«
Stirling richtete sich auf.
»Mr Sebbi… oder wie ist sein Name noch mal? Ist er nicht ein harmloser Zeitgenosse?«
»Harmlos!«, sprudelte Jeremiah. »Harmlos! Der Mann ist der Teufel in Person.«
Erschöpft von seinem Ausbruch und dem steilen Weg bergauf sank Jeremiah in den Sessel dem Pfarrer gegenüber. Polly reichte ihm etwas zu trinken und goss Stirling nach, dann machte sie sich eiligst aus dem Staub. Es war nicht ratsam, sich im selben Zimmer wie die beiden aufzuhalten. Lieber lauschte sie von draußen an der Tür.
Jeremiah leerte sein Glas in einem Zug. Er griff nach der Karaffe und stellte sie neben sich auf den Kaminsims.
»Ich sag Euch, Stirling«, verkündete er, »dieser Pfandleiher ist schlecht fürs Geschäft. Besonders für mein Geschäft. Sein Schaufenster hat er vollgestellt mit der größten Sammlung an Plunder, die Ihr je gesehen habt. Und nicht nur das, er hat auch noch dafür bezahlt.«
»Wie kann das ein Problem sein?« Stirling gab sich Mühe, Interesse zu heucheln, aber er spürte einen aufkommenden Kopfschmerz und musste ein Gähnen unterdrücken.
»Seine Bezahlung liegt so weit über dem wahren Wert der Sachen, dass ich befürchte, in Kürze werden alle Leute im Dorf ihre Schulden bezahlen können.«
»Verstehe«, sagte Stirling.
»Und wenn mir die Leute nichts mehr schulden, wie soll ich dann an Geld kommen?«, fuhr Jeremiah fort. Um seinen Worten zusätzlich Nachdruck zu verleihen, beugte er sich vor und tippte Stirling mit seinem dicken Zeigefinger an die Brust. »Ihr müsst etwas tun. Es geht um meine Existenzgrundlage.«
Jetzt wurde Stirling hellwach. »Ich? Etwas tun? Was kann ich denn tun?«
»Ihr müsst diese Bauern davon überzeugen, dass Joe Zabbidou eine Ausgeburt des Teufels ist.«
»Eine Hausgeburt? Stimmt denn das?«
» Aus! Eine Aus geburt!«, rief Jeremiah höchst verärgert. »Was hat denn die Wahrheit damit zu tun? Das ist eben Geschäft. Sie dürfen sich nicht mehr mit ihm abgeben, sonst werden sie unter Höllenqualen leiden.«
»Also, ich weiß nicht recht«, sagte Stirling vorsichtig.
»Ihr tut es und basta!«, fuhr Jeremiah ihn an.
Kapitel 22

Stirling greift ein
Ihr guten Leute von Pagus Parvus«, fing Stirling an. »Ich verschwöre euch, hört mich an.« Verschwören?, dachte er in jähem Schreck. War das das richtige Wort? Egal, es mochte hingehen. Hier gab es keinen Experten für die Feinheiten der Sprache. Seine Stimme bebte hörbar, seine Hände zitterten. Er wünschte, er hätte sich einen zweiten Whisky zur Beruhigung seiner Nerven genehmigt. Es war Jahre her, seit er zum letzten Mal vor einer Menschenmenge gesprochen hatte, und erst recht hatte er es nie in einer derart unwirtlichen Umgebung getan. Es schneite leicht, und er stand auf einer Kiste mitten auf der Dorfstraße, etwas oberhalb von Jeremiahs Haus. Dieser Platz schien ihm gut geeignet. Er räusperte sich und erhob die Stimme.
»Denn ich sage euch jetzt, dass ich in der Nacht von einem Engel besucht worden bin.«
Bis zu dieser Stelle hatte seine Zuhörerschaft aus drei Menschen bestanden, nämlich den mit Schneebällen bewaffneten Sourdough-Jungen. Alle anderen waren, sobald sie ihn erkannt hatten, im Bogen um ihn herumgegangen, sodass der Schnee um sein Podest inzwischen von einem Ring aus Fußabdrücken niedergetrampelt war. Erst als er »Engel« sagte, blieben die Leute stehen. Solche himmlischen Wesen weckten ihre ausgehungerte Fantasie. Bald hatte sich eine kleine Schar vor Stirling zusammengefunden, und jeder blickte mit rotnasigem Gesicht erwartungsvoll zu ihm auf.
»Ein Engel?«, fragte einer nach.
»Ja, ein Engel.«
»Seid Ihr sicher, Stirling?«, rief Horatio. »Vielleicht war es ja eine Erscheinung aus der Flasche? Zu viel Portwein kann so was leicht bewirken.«
Der Pfarrer errötete und fuhr fort. »Ein wunderbarer Engel kam aus den Wolken und riss mich aus dem Bett.«
»Was hat er denn gesagt, der Engel?«, spottete Horatio und bemühte sich nicht, seinen Unglauben zu verbergen.
»Er sagte zu mir: ›Stirling, du musst den Menschen von Pagus Parvus sagen, sie sollen sich hüten, denn der Teufel ist in ihre Mitte gekommen. Er will sie verführen mit seinen Schlichen und seinem schnöden Mammon.‹«
»Schliche und schnöder Mammon?«, sagte Elias Sourdough lachend. »Was ist denn das für eine Sprache? War es ein Engel aus einem fremden Land?«
»Geld«, sagte Stirling gereizt. »Der Teufel ist unter uns und ködert uns mit seinem Geld.«
»Es gibt nur einen Teufel hier im Ort, und von dem seinen Geld sehen wir keinen Penny«, sagte Job Wright, der Hufschmied, und zeigte in die Richtung von Jeremiahs Haus. In diesem Augenblick wackelte der Vorhang hinter einem der oberen Fenster, und Stirling fragte sich, ob er sein Podest nicht doch besser ein Stück weiter oben an der Straße hätte aufstellen sollen.
»Doch nicht Mr Ratchet«, zischte er. Und lauter fuhr er fort: »Sondern Joe Zabbidou, des Teufels Pfandleiher.« Er sagte das mit großer Inbrunst und schüttelte dabei die geballte Faust gen Himmel. Ringsum wurden erstaunte Ausrufe laut, und Stirling spürte, dass er endlich ihre volle Aufmerksamkeit hatte. Er wollte sich diesen Vorteil nicht entgehen lassen und sprach hastig weiter.
»Joe Zabbidou ist ohne jede Ankündigung zu uns gekommen, bei Nacht aus dem Nichts hier aufgetaucht, um euch in seinen Laden mit seinen ausgefallenen Waren zu locken.«
Ludlow, der alles von Horatios Eingang her beobachtete, zog die Augenbrauen hoch. »Ausgefallene Waren? Ein zersprungener Nachttopf? Wohl kaum.«
»Was hat er mit uns vor?«, fragte Lily Weaver.
»Was hat er mit uns vor?«, wiederholte Stirling aus Gewohnheit.
Mit dieser Frage hatte er bei der Vorbereitung seiner Rede nicht gerechnet. Er war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass man ihm Fragen stellen könnte. Er konnte sich nicht erinnern, dass so etwas je in der Kirche vorgekommen wäre; jedenfalls waren dort die Leute während seiner Predigt meistens eingeschlafen.
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