Schon seit Generationen hatte die Familie Ratchet in Pagus Parvus ihren Nutzen aus den Armen im Dorf gezogen. Diese Tradition hatte Jeremiah mit List, Zwang und ererbter Falschheit fortgesetzt. Er hatte Häuser und Grundstücke erworben und vermietete beides an die Dorfleute für Summen, die nur als kriminell zu bezeichnen waren. In regelmäßigen Abständen setzte er sie auf die Straße, um ihnen zu beweisen, dass er es ernst meinte, kurz darauf ließ er sie wieder einziehen und presste ihnen das Einverständnis ab, dass sie ihm von nun an noch mehr Miete schuldeten. Obadiah war nicht der Einzige, der in diese Schuldenfalle geraten war, und auf diese Weise wuchs Jeremiahs Wohlstand.
Seiner Meinung nach war dieser Reichtum allein auf seine Begabung als Geschäftsmann zurückzuführen. Natürlich ist es nicht schwer, ein geschickter Geschäftsmann zu sein, wenn es keine Konkurrenz gibt. Allmählich aber ahnte Jeremiah, dass Joe der Rivale sein könnte, den er bisher nicht gehabt hatte. Dummerweise war Joes Laden nicht sein Eigentum, ein Umstand, der ihn sehr verärgerte. Was ihn aber noch mehr wurmte, war Joes offensichtlicher Reichtum. Er hatte sich persönlich davon überzeugt, dass es nur das Geld war, das Joe zu seiner herausgehobenen Stellung verhalf – besonders sein freigiebiger Umgang damit. Das durfte so nicht weitergehen. Zwei Wochen nachdem der Pfandleiher seinen Laden eröffnet hatte, musste Jeremiah verblüfft feststellen, dass das Leihhaus immer noch existierte. Und nach der Zahl von Leuten zu schließen, die auf ihrem Weg den Berg hinauf an Jeremiahs Haus vorbeikamen, blühte das närrische Gewerbe mit Nachttöpfen und alten Stiefeln sogar.
Jeremiah hatte sich grün und blau geärgert, als kürzlich Obadiah Strang auf der Straße auf ihn zugekommen war, einen sonderbaren Ausdruck in den Augen.
»Nun, Obadiah«, hatte Jeremiah genörgelt. »Ich hoffe, du willst dich nicht schon wieder um die wöchentliche Miete drücken. Ich habe dir gesagt …«
»Da«, sagte Obadiah triumphierend. »Nehmt das hier.« Er warf Jeremiah einen Lederbeutel zu, und als Jeremiah ihn neugierig öffnete, fand er ihn voller Münzen.
»Es ist die ganze Summe«, sagte Obadiah. »Meine Schuld ist abbezahlt.«
Mit hoch erhobenem Kopf ging der Totengräber davon, und Jeremiah blieb im Schnee stehen und sah mit offenem Mund hinter ihm her. Als die Vorüberkommenden anfingen, hinter vorgehaltener Hand über ihn zu lachen, machte er schleunigst kehrt und ging hastig nach Hause. In der Eingangshalle kam Polly auf ihn zu.
»Das hat jemand für Euch abgegeben«, sagte sie. Sie hielt die hölzerne Schaufel in der Hand. Wutschnaubend stürmte Jeremiah an ihr vorbei in sein Arbeitszimmer und schlug die Tür so heftig zu, dass die Fenster klapperten.
Nicht nur Obadiah war plötzlich zu Geld gekommen. Mindestens noch drei andere Schuldner hatten bezahlt. Woher haben sie das?, fragte sich Jeremiah, und die einzig vorstellbare Antwort war Joe Zabbidou. Jeremiahs Laune wurde immer schlechter, und das bekamen Polly und der Stalljunge am stärksten zu spüren. Niemals hatte Jeremiah gedacht, dass auch nur einer aus dem Dorf seine Schulden würde bezahlen können. Wenn das so weiterginge, würde er andere Wege finden müssen, an Geld zu kommen.
Vor Kurzem hatte er gehört, dass sich der Verkauf von Zähnen, falschen wie echten, lohnen würde. Ironischerweise litten die Reichen mehr unter Zahnfäule als die Armen. Das lag zweifellos an ihrer süßeren und exotischeren Nahrung, im Gegensatz zu der groben Kost ihrer ärmeren Mitmenschen. Gut betuchte Damen und Herren zahlten ein hübsches Sümmchen für echte Zähne, die sie sich in ihre Lücken setzen lassen konnten – nicht zuletzt deshalb, weil das als deutliches Zeichen ihres Reichtums galt. Jeremiah hatte schon daran gedacht, ob er einen Nutzen aus dieser Geschäftsmöglichkeit ziehen könnte. Das letzte Mal, als er im Flinken Finger war, hatte er von einem gewissen Barton Gumbroot gehört, der auf diesem Gebiet Bescheid wisse. Im Hinterkopf machte er sich eine Notiz, sobald er nächstens in der Stadt wäre, diesen Gumbroot aufzusuchen.
Zuerst aber musste er mit diesem Pfandleiher fertig werden. Sobald er nur an Joe dachte, diese Bohnenstange von Mann, dessen Haar jeder Beschreibung spottete, spürte er, wie er unwillkürlich die Zähne aufeinanderbiss und wie vom Nacken her ein Schmerz in seinen Kopf kroch. Und was den Jungen anging, seinen mageren, kurzbeinigen Gehilfen, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, der schien ein verschlagener kleiner Teufel zu sein. Er trug ein Tuch und Handschuhe, die verdächtig Jeremiahs eigenen glichen, beides Sachen, deren Diebstahl er dem Kutscher anlastete. Und dann diese großen dunklen Augen. Noch kein einziges Mal hatte Jeremiah Ludlows Blick standhalten können. Er hatte immer wegsehen müssen.
Seit ihrer ersten Begegnung hatte sich ein schleichendes Gefühl der Unzufriedenheit in Jeremiah breitgemacht. Wenn er jetzt die Straße entlangging, warfen ihm die Dorfleute verstohlene Seitenblicke zu, und das machte ihn nervös. Gelächter drang ihm in die Ohren, obwohl die Gesichter um ihn herum grimmig und verbissen waren. Im Dorf ging eine Veränderung vor sich. Sie lag sozusagen in der Luft. Er konnte sie in den Knochen spüren, dass ihn schauderte. Und er ahnte, dass alles irgendwie mit dem Pfandleiher zusammenhing.
Es dauerte nicht lange, bis Jeremiah etwas von Joes nächtlichen Besuchern bemerkte. Was hatte das alles zu bedeuten?
Er lag die Nacht über wach in seinem Himmelbett und wälzte sich unruhig. Das kleinste Geräusch schien ihm zehnmal so laut, während er auf die Schritte unter seinem Fenster horchte. Er hatte versucht, sie zu überhören, hatte das Gesicht unter dem Federbett vergraben, aber er konnte den Geruch seines eigenen Atems nicht ertragen und war jedes Mal schnell wieder aufgetaucht. Dann setzte er sich auf, legte nachdenklich die Stirn in Falten, murmelte vor sich hin und trommelte mit den Fingern auf die Bettdecke, bis er wieder einmal leise knirschende Schritte draußen im Schnee hörte. Da sprang er aus dem Bett und lief zum Fenster. Er sah die dunklen Gestalten, die zu Joe hinaufgingen, aber er konnte sie nicht erkennen. Was auch immer sie im Schilde führten, für ihn konnte es nur noch mehr Ärger bedeuten. In seinem Nachthemd stand er da, schüttelte die geballte Faust und stampfte zornig auf den Boden.
»Diesem Mann muss das Handwerk gelegt werden!«, schrie er in die Nacht.
Kapitel 20

Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
War Joe von anhaltendem Interesse für die Dorfleute, so war ich von ebenso anhaltendem Interesse für die Jüngeren, nämlich für Polly und die Brüder Sourdough. Ich hatte nie Freunde gehabt, denn dort, wo ich herkomme, waren die Menschen einzig dem Geld verpflichtet. Doch die Sourdough-Jungen waren nicht so. Sie waren unterhaltsam und brachten mich zum Lachen. Ich mochte sie. Bis auf den ältesten vielleicht. Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, als könne ich ihm nicht ganz trauen. Man wusste nie so recht, was er dachte.
Im Gegensatz zu den Brüdern war Polly weniger an Saluki interessiert, vielmehr an Geschichten aus meiner Vergangenheit. »Erzähl mir von der Stadt«, drängte sie immer wieder. »Ich will alles wissen.«
Da erzählte ich. Ich erzählte ihr von den düsteren Straßen, die so dicht von Häusern gesäumt waren, dass die Sonne nie bis zum Boden drang; von den ramponierten Bürgersteigen, auf denen halb verfaulte Nahrungsreste herumlagen, tote Hunde und verwesende Ratten; von den stinkenden Pfützen und den Fliegenschwärmen, die in Wolken darüber hinsummten. Ich erzählte ihr von den Menschen, die im Rinnstein hockten und um Geld bettelten, damit sie in eine der Schenken gehen konnten, und von anderen, die betrunken am Straßenrand lagen, weil sie aus einer Schenke hinausbefördert worden waren; und ich erzählte ihr von der unerträglichen Kälte im Winter, wenn Menschen und Tiere an Ort und Stelle erfroren.
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