Durch all dieses Elend strömt der Fluss Foedus, dessen Wasser langsam wie eine dicke Suppe dahintreibt. Aber bei Gott, er macht seinem Namen alle Ehre. Sein abscheulicher Gestank hängt wie ein Leichentuch über der Stadt. Nie kann man ihm trauen. Ich habe gesehen, wie er versucht, die Schiffe von seiner Oberfläche abzuschütteln: Er lässt sie schwanken wie wild, sodass sich ihr empörtes Knarren und Ächzen mit den angstvollen Rufen der Schiffer und Passagiere mischt, die auf den kleinen Fähren den breiten Strom überqueren. Alle fürchten sein trübes Wasser. Man weiß nur von wenigen, die ein Untertauchen in dieser Giftbrühe überlebt haben. Hat der Foedus erst jemanden verschlungen, gibt er ihn so schnell nicht heraus. Er reißt ihn in die Tiefe, saugt ihm das Leben aus, und erst Tage später spuckt er sein Opfer ans Ufer – vergiftet von den tödlichen Gasen.
Der Foedus teilt die Stadt in zwei Hälften, und er trennt auch die Menschen. Am Nordufer leben die Reichen, am Südufer die Armen. Es gibt nur eine einzige Brücke über den Fluss. Vielleicht hatte sie früher mal einen Namen, doch jetzt wird sie einfach nur »die Brücke« genannt. Zu beiden Seiten ist sie gesäumt von Schenken, Wirtshäusern und Herbergen der übelsten Sorte, und in diesen dunklen, rauchigen Lasterhöhlen sind alle Menschen gleich, ob sie vom Nordufer oder vom Südufer kommen: Sie prügeln sich, sie spielen, sie trinken, sie bringen sich gegenseitig um. Ich war selber schon im Flinken Finger , das ist die Schenke, in die Jeremiah Ratchet und Ma und Pa gern gehen.
In einer Stadt, deren Lebensnerv das Verbrechen ist, gibt es auch Strafen, um es einzudämmen. Jede Sache hat auch ihr Gutes, und wenn ich das jetzt auch nicht gern sage: Damals habe ich von den Missetaten anderer gut gelebt, vor allem mittwochs, wenn am Galgeneck Verbrecher gehenkt wurden.
Eine Hinrichtung war wie ein Feiertag. Die Menge freute sich an dem Spektakel fast so sehr, wie der arme Kerl am Galgen Angst davor hatte. Der Verurteilte wurde auf einem Karren gebracht, man hatte ihn aus dem Irongate-Gefängnis geholt und durch die Melancholy-Gasse zum Galgenplatz gefahren. Ich denke, er war schon zu Beginn der Fahrt in trauriger Verfassung, aber an ihrem Ende ging es ihm erbärmlich. Es war üblich, dass die Zuschauer dem Karren im Vorüberfahren nachwarfen, was gerade greifbar war: verfaultes Obst und Gemüse aus dem Rinnstein, auch mal eine tote Katze. Ich selbst habe keinem dieser armen Teufel je auch nur eine Kartoffelschale nachgeworfen. Wer konnte wissen, ob ich nicht nächste Woche selber im Karren sitzen würde?
Die Menge jubelte, wenn der Verbrecher dann die Stufen hinaufgeführt wurde und man ihm die Schlinge um den Hals legte (nicht selten auch war es eine Frau, die dort oben stand). Das war der Augenblick, in dem ich mich immer abwandte, nicht zuletzt deshalb, weil dann die günstigste Zeit für mich gekommen war. Wenn alle wie gebannt auf die entsetzliche Szene schauten, die sich vor ihren Augen abspielte, schob ich mich unauffällig zwischen den Leuten hindurch und nahm mit, was ich ergattern konnte. Ich hörte, wie die Falltür aufklappte und wie der Balken ächzte, wenn das Gewicht herabfiel. Und während die Menge noch johlte, schlich ich mich davon, bevor jemand den Verlust seines Geldbeutels bemerken konnte.
Polly saugte gierig jedes Wort auf. »Eines Tages gehe ich dorthin«, verkündete sie mit glänzenden Augen. Und ich konnte sagen, was ich wollte, sie ließ sich ihren Entschluss nicht ausreden.
Obwohl ich Polly vieles erzählte, sagte ich ihr nichts von Ma und Pa. Ich sagte ihr nicht, wie sie mich bestohlen und geschlagen hatten oder warum ich wirklich die Stadt verlassen hatte. Und mit keinem Wort sprach ich davon, was sie mir hatten antun wollen und dass mich dieses Erlebnis nachts in meinen Träumen verfolgte. Das Gesicht meines Vaters stand immer noch drohend über mir, und seine Hände lagen um meinen Hals … oder waren es meine, die um seinen Hals lagen?
Ich konnte Ma und Pa nie verzeihen, was sie getan hatten, und trotzdem war ich ihnen in gewisser Weise auch dankbar. Mit Taschendieben ging man streng ins Gericht, egal wie alt sie waren. Hätten Ma und Pa mich also nicht aus der Stadt vertrieben, so hätte sich früher oder später ganz sicher die Schlinge um meinen Hals gelegt, und mein lebloser Körper hätte an einem dieser Galgen gebaumelt.
Kapitel 21

Stirling Oliphaunt
Die Tage vergingen, und immer mehr Dorfleute profitierten von Joes Hilfe, die nicht nur in seiner großzügigen Bezahlung für ihre verpfändeten Sachen, sondern auch in seinem mitternächtlichen Handel bestand. Obwohl niemand über die glückliche Wendung seines persönlichen Schicksals sprach, war deutlich zu spüren, dass etwas vor sich ging. Ohne Zweifel war Joe der frische Wind, den das Dorf seit Langem so dringend ersehnt hatte. Der ganze Ort schien irgendwie heller, so als hätten sogar die Häuser tief aufgeseufzt und sich dann entspannt zurückgelehnt, um das Licht hereinzulassen. Als eines Morgens für ein, zwei Minuten die Wolken aufrissen und dazwischen ein Stück blauer Himmel zu sehen war, blieben die Leute auf der Straße stehen.
»Ein Wunder«, erklärte Ruby Sourdough. Der blaue Himmel verschwand, doch dieser eine Moment hatte genügt, um zu wissen: Es gibt ihn tatsächlich.
Ob es nun ein Wunder war oder nicht, der einzige Mensch im Dorf, der zu einer solchen Feststellung berufen war, lag noch im Bett und verpasste das historische Ereignis.
Das war Stirling Oliphaunt, der Pfarrer.
Schon seit zwanzig Jahren betrachtete sich Stirling Oliphaunt jeden Morgen im Spiegel (sein Morgen begann gewöhnlich um die Mittagszeit) und beglückwünschte sich zu seinem Posten in Pagus Parvus. Eine bessere Stelle konnte sich ein Mann seines Charakters kaum wünschen – und sein Charakter war der eines faulen, oberflächlichen Menschen, dessen angeblicher Glaube an eine höhere Macht ihm ein leichtes Leben ermöglichte. Als er vor zwei Jahrzehnten ins Dorf gekommen war, war er eine Weile an der Kirchentür stehen geblieben und hatte den Blick aus seinen fettgepolsterten Augen bedächtig hangabwärts über die Häuser wandern lassen.
Auf einen solchen Ort habe ich schon lange gewartet, hatte er gedacht. Dieser Berg muss eine Steigung von vierzig Prozent haben, wenn nicht mehr.
Zu jener Zeit waren die Dorfleute noch eher dazu bereit, dem Wort Gottes zu lauschen, deshalb sah sich Stirling – sehr zu seiner Enttäuschung – gezwungen, fast acht Monate lang jeden Sonntag zu predigen. Seine monotone Stimme und die immer gleichen Themen (der Teufel, die Dunkle Seite, Hölle, Pech und Schwefel und alles, was damit zusammenhing) garantierten, dass er zu einer allmählich schwindenden Zuhörerschaft sprach. Zuletzt schwand sie auf null, ganz nach Stirlings Wunsch. Von da an verbrachte er seine Tage ruhig und beschaulich, erfreute sich an edlen Weinen und gutem Essen auf Kosten der Kirche und tat im Großen und Ganzen, was ihm gefiel – und das war wenig. Er dachte auch an Gott. Es musste einen Gott geben, denn wie sonst konnte ein Mensch mit einem so glücklichen Schicksal gesegnet sein?
Nun war Stirling mehr als leicht irritiert durch die Ereignisse der vergangenen Wochen. Von seiner erhöhten Lage oben auf dem Berg war ihm nicht entgangen, dass immer öfter immer mehr Menschen die Straße heraufkamen. Zuerst hatte er gedacht, die Leute wollten möglicherweise zu ihm und ihm einen Gottesdienst abverlangen. Als er jedoch erkannte, dass Joe Zabbidou ihr Ziel war, hatte er tief aufgeseufzt vor Erleichterung.
Stirling hatte sich an ein bequemes Leben gewöhnt, in dem es kaum Störungen und gewiss keine Forderungen von seiner Gemeinde gab. Als Jeremiah wegen des Leichenraub-Plans zu ihm gekommen war, hatte er keinen Grund gesehen, ihm im Wege zu stehen. Für diese Haltung war er reichlich mit Geschenken aus Jeremiahs Weinkeller belohnt worden. Man täusche sich aber nicht in Jeremiahs Charakter: Den größten Teil seiner Gaben trank er selbst, wenn er Stirling jeden Donnerstag besuchte.
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