Nun, natürlich habe er die zusätzlichen Innings gesehen, sagt der bedauernswerte Anrufer, deshalb wisse er ja auch, dass Pokey Reese nicht out gewesen sei.
»Und was die Wisconsin Rat betrifft, ich würde den Kerl nicht erkennen, wenn er hier reinkäme. Überhaupt finde ich, dass die so genannte Musik, die der spielt, wie der größte Scheiß klingt, den ich je in meinem Leben gehört habe. Wie hat dieser dürre Fiesling mit dem teigigen Gesicht es überhaupt zu ’ner eigenen Sendung gebracht? Auch noch bei ’nem College-Sender ? Was sagt dir das über unsere wundervolle UW/La Riviere, Bobby? Was sagt es über unsere ganze Gesellschaft aus? Oh, ich hab ganz vergessen, dass du auf diesen Scheiß stehst.«
»Ach was, ich mag viel eher 311 und Korn. Du aber bist ja so wenig auf dem Laufenden, dass du Jonathan Davis und Dee Dee Ramone nicht voneinander unterscheiden könntest, aber vergiss das jetzt, okay?« Bobby Dulac dreht sich langsam um und lächelt seinen Partner an. »Hör auf, drum herumzureden.« Sein Lächeln ist nicht allzu freundlich.
»Ich rede um etwas herum?« Tom Lund reißt die Augen in einer Parodie gekränkter Unschuld auf. »He, hab etwa ich die Zeitung durch den Raum gepfeffert? Nicht, dass ich wüsste.«
»Wenn du die Wisconsin Rat noch nie zu Gesicht bekommen hast, woher weißt du dann, wie der Kerl aussieht?«
»Genau wie ich weiß, dass er wild gefärbtes Haar und eine gepiercte Nase hat. Genau wie ich weiß, dass er tagaus, tagein und bei jedem Wetter eine beschissene abgewetzte schwarze Lederjacke trägt.«
Bobby scheint auf mehr zu warten.
»Rein vom Zuhören. Aus den Stimmen der Leute kann man einiges heraushören. Sagt einer beispielsweise: >Sieht so aus, als bekämen wir heute schönes Wetter<, will er einem nur gleich seine ganze Lebensgeschichte erzählen. Du willst mehr über Rat Boy wissen? Also gut.
Er ist seit sechs, sieben Jahren nicht mehr beim Zahnarzt gewesen. Seine Zähne sehen aus wie Scheiße.«
Aus dem hässlichen KDCU-Hohlblocksteinbau, der am Peninsula Drive neben der Brauerei steht - beziehungsweise aus dem Radio, das Dale Gilbertson der Polizeistation gespendet hat, lange bevor Tom Lund oder Bobby Dulac erstmals ihre Uniform trugen - kommt der patentierte Aufschrei jovialer Empörung des guten, alten, zuverlässigen George Rathbun: ein leidenschaftliches, alles einschließendes Plärren, das noch in hundert Meilen Umkreis bewirkt, dass frühstückende Farmer ihren Frauen über den Tisch hinweg zulächeln und zufällig vorbeikommende Fernfahrer laut lachen.
»Ich schwör’s Ihnen, Mister, und das gilt auch für den vorigen Anrufer und jeden Einzelnen von euch da draußen, ich liebe euch innig, das ist die reine Wahrheit, ich liebe euch, wie meine Mama ihr Steckrübenbeet geliebt hat, aber manchmal macht ihr Leute mich verrückt! Also echt. Zweite Hälfte des elften Innings, zwei Mann out! Sechs zu sieben, Brewers! Spieler an der zweiten und dritten Base. Der Batter schlägt kurz ins Mittelfeld, Reese läuft von der dritten Base los, guter Wurf zur Plate, eindeutig out. Eindeutig out. Das hätte ein Blinder entscheiden können!«
»He, und ich dachte, er wäre safe gewesen, allerdings hab ich das Spiel nur im Radio gehört«, sagt Tom Lund.
Beide Männer reden um den heißen Brei herum, und das wissen sie genau.
»Also wirklich«, plärrt der bei weitem populärste Moderator im Coulee Country, »jetzt mal Tacheles, Boys und Girls, ich schlag euch was vor, okay? Wir ersetzen alle Schiedsrichter im Miller Park, ach was, alle Schiedsrichter in der ganzen National League einfach durch Blinde! Wisst ihr was, meine Freunde? Ich garantiere eine Verbesserung von sechzig bis siebzig Prozent, was die Korrektheit ihrer Entscheidungen anlangt. Gebt den Job denen, die dafür geeignet sind - den Blinden!«
Heiterkeit überzieht Tom Lunds freundliches Gesicht. Dieser George Rathbun, Mann, echt zum Kaputtlachen!
»Mach schon, okay?«, sagt Bobby.
Lund zieht grinsend die zusammengefaltete Zeitung aus der Hülle und streicht sie auf seinem Schreibtisch glatt. Seine Miene verhärtet sich; ohne die Form zu ändern, wird sein Grinsen zu Stein. »O nein. Oh, verdammt.«
»Was?«
Lund stößt ein unbestimmbares Ächzen aus und schüttelt dann den Kopf.
»Verdammt, ich will’s nicht mal wissen.« Bobby rammt die Hände in die Hosentaschen, richtet sich dann stocksteif auf, reißt die rechte Hand wieder heraus und presst sie sich auf die Augen. »Ich bin jetzt blind, okay? Mach einen Schiedsrichter aus mir - ich will kein Cop mehr sein.«
Lund sagt nichts dazu.
»Ist’s eine Schlagzeile? Gleich eine Riesenbalkenüberschrift? Wie schlimm ist’s?« Bobby nimmt die Hand von den Augen, hält sie aber weiter vor dem Gesicht.
»Also«, sagt Lund, »Wendell scheint doch nicht zur Vernunft gekommen zu sein. Er hat jedenfalls todsicher nicht beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich kann’s gar nicht glauben, dass ich vorhin gesagt habe, dass ich den kleinen Scheißer mag.«
»Wach auf!«, sagt Bobby. »Hat dir nie jemand gesagt, dass Ordnungshüter und Journalisten auf verschiedenen Seiten des Zauns stehen?«
Tom Lund beugt seinen massigen Rumpf über den Schreibtisch. Eine tiefe waagrechte Furche teilt narbengleich seine Stirn, die Pausbacken leuchten puterrot. Er deutet mit einem Finger auf Bobby Dulac. »Das ist eine Sache, die mich an dir echt aufregt, Bobby. Wie lange bist du jetzt hier? Fünf, sechs Monate? Dale hat mich vor vier Jahren eingestellt. Als er und Hollywood besagten Mr. Thornberg Kinderling die Handschellen angelegt haben, was der seit ungefähr dreißig Jahren größte Fall in unserer County war, konnte ich zwar keinen großen Verdienst daran beanspruchen, aber ich hatte wenigstens meinen Teil getan. Ich habe mitgeholfen, einige der Puzzlesteinchen zusammenzusetzen.«
»Nur ein einziges«, sagt Bobby.
»Ich habe Dale an die Barfrau im Taproom erinnert, und Dale hat Hollywood von ihr erzählt, und Hollywood hat mit dem Mädchen geredet, und das war ein großes, großes Stück. Es hat mitgeholfen, ihn zu schnappen. Also komm mir nicht auf die Tour.«
Bobby Dulac setzt einen Ausdruck völlig heuchlerischer Zerknirschung auf. »Sorry, Tom. Ich glaube, ich bin irgendwie angespannt und gleichzeitig restlos erledigt.« Dabei denkt er: Du hast also ein paar Dienstjahre mehr als ich, und du hast Dale einmal diesen beschissenen kleinen Tipp gegeben, na und? Ich bin ein besserer Cop, als du jemals einer sein wirst. Wie heldenhaft bist du eigentlich gestern Nacht gewesen?
Gegen Viertel vor zwölf in der Nacht zuvor waren Armand »Beezer« St. Pierre und seine Kumpane von der Thunder Five aus der Nailhouse Row heraufgeröhrt gekommen, um in die Polizeistation zu stürmen und von den drei anwesenden Beamten, die bereits jeweils eine Achtzehnstundenschicht hinter sich hatten, genaue Auskunft über ihre Fortschritte in dem Fall zu fordern, der ihnen allen am meisten am Herzen lag. Was zum Teufel ging hier vor? Was war mit der Dritten, ha, was war mit Irma Freneau? Hatte man sie schon gefunden? Hatten diese Clowns irgendwas in der Hand, oder warfen sie weiter nur Nebelkerzen? Ihr braucht Hilfe?, donnerte Beezer. Macht uns zu Deputies, dann bekommt ihr alle gottverdammte Hilfe, die ihr braucht, und noch mehr dazu. Ein Riese namens Mouse war grinsend an Bobby Dulac herangetreten und hatte ihn vor sich her geschubst, Jumbowanst gegen Sechserpackbauch, bis Bobby mit dem Rücken an einem Aktenschrank stand. Dann hatte der Riese Mouse sich in einer Wolke aus Bier- und Marihuanadunst rätselhafterweise danach erkundigt, ob Bobby schon jemals einen Blick in die Werke eines Gentlemans namens Jacques Derrida geworfen habe. Als Bobby erwiderte, er habe noch nicht einmal den Namen dieses Gentlemans gehört, sagte Mouse: »Ohne Scheiß, Sherlock«, und trat zur Seite, um finster die Namen an der Tafel anzustarren. Eine halbe Stunde später wurden Beezer, Mouse und ihre Kumpane unzu-frieden, nicht zu Deputies ernannt, aber beschwichtigt fortgeschickt, und Dale Gilbertson sagte, er müsse nach Hause fahren, um etwas zu schlafen, aber Tom solle noch bleiben - für alle Fälle. Die zum Nachtdienst eingeteilten Kollegen hatten beide eine Ausrede gefunden, um nicht hereinkommen zu müssen. Und dann sagte Bobby, er werde eben auch bleiben, kein Problem, Chief. Das ist also der Grund dafür, dass wir diese beiden Männer so früh am Morgen in der Polizeistation antreffen.
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