Sebastian lächelte. »Manchmal«, sagte er. »Normalerweise trinken wir Wasser. Wir haben unsere eigene Quelle. Ich weiß, es ist aus der Mode gekommen. Du wärst wahrscheinlich überrascht, wie köstlich frisches Quellwasser schmeckt. Aber dieser Tee ist besser gegen die Kälte. Er weckt die Lebensgeister.«
Astrids Miene machte deutlich, was sie von dieser Behauptung hielt.Trotzdem nahm sie einen zweiten, merklich größeren Schluck. Sie verzog auch jetzt wieder das Gesicht, sagte aber: »Na, ja – heiß ist er wenigstens. Danke.« Ihre Hände schmiegten sich fester um den henkellosen Becher, um die Wärme aufzusaugen, die sein Inhalt verströmte.
Etwas an diesem Anblick schien Sebastians Mißfallen zu erregen. Aber es dauerte eine Weile, bis Brenner begriff, was es war: die Zigarette, die Astrid zwischen Zeige-und Mittelfinger der Rechten geklemmt hatte. Beinahe hastig beugte er sich über den Tisch, nahm ihr die ohnehin fast heruntergebrannte Camel aus der Hand und trug sie zum Fenster, um sie zusammen mit seiner eigenen hinauszuschnippen – allerdings nicht, ohne vorher noch einen letzten Zug zu nehmen. Astrid sah ihn verwundert an, sagte aber nichts.
»Danke«, sagte Sebastian. »Ich wollte nicht unhöflich sein, aber … «
»Sie rauchen hier nicht«, vermutete Brenner.
»Tatsächlich ist in diesen Räumen noch nie geraucht worden, soweit ich weiß«, bestätigte Sebastian. »Der Geruch hält sich sehr lange. Und er ist doch sehr störend, wenn man ihn nicht gewohnt ist.«
»Sicher«, sagte Brenner. »Bitte entschuldigen Sie.«
Er registrierte das Glitzern in Astrids Augen und warf ihr einen fast beschwörenden Blick zu. Zu seiner eigenenÜberraschung reagierte sie sogar darauf und schluckte die spöttische Bemerkung herunter, die ihr wahrscheinlich auf der Zunge lag.
»Sie leben hier sehr abgeschieden«, sagte er. »Und sehr einfach«, fügte Astrid hinzu.
»Wir haben hier alles, was wir brauchen«, antwortete Sebastian. »Wir halten nicht viel von weltlichem Besitz. Das meiste ist ohnehin nur Ballast, der mehr Probleme schafft, als er beseitigt.« Er streckte die Hand über den Tisch. »Laß mich deine Hand sehen. «
Astrid stellte den Becher ab. »Das ist wirklich nur ein Kratzer«, sagte sie. »Er tut schon kaum noch weh.«
Sie streckte den Arm halb über den Tisch und zog ihn dann wieder zurück, noch bevor Sebastian nach ihrer Hand greifen konnte. Ihr Blick streifte nervös das Verbandszeug, das auf seinemTablett lag.
Brenner fiel erst jetzt auf, daß sich außer einer Anzahl Mullbinden und verschieden großen Pflasterstreifen auch eine Schere, eine Pinzette und eine gebogene Nadel in einem durchsichtigen Plastiketui dabei befanden.
»Keine Sorge«, sagte Sebastian. Ihr Blick war ihm nicht entgangen, und als Reaktion erschien ein verständnisvolles Lächeln auf seinen Zügen. »Ich will dir nur helfen. Man sollte mit solchen Kleinigkeiten nicht zu leichtsinnig sein. Du willst doch keine häßliche Narbe zurückbehalten, oder? Dazu bist du noch zu jung, finde ich.«
Zögernd streckte Astrid zum zweitenmal die Hand aus und ließ es zu, daß Sebastian die Wunde begutachtete und anschließend sorgsam reinigte. Er ging sehr behutsam zu Werk, wie Brenner auffiel. Trotzdem zuckten Astrids Mundwinkel ein paarmal verdächtig, und sie wurde noch blasser, als sie sowieso schon war.
»Der Schnitt ist ziemlich tief«, sagte Sebastian. »Ich bin nicht sicher, daß er richtig heilt. Ich sollte das nähen. Keine Angst ich verstehe mich auf so etwas. Wir versorgen kleinere Verletzungen hier immer selbst.«
»Nähen?« Astrid wurde noch blasser. Ihr Blick saugte sich an dem Kunststoffetui mit der Nadel fest.
»Es wird ein wenig weh tun«, sagte Sebastian. »Aber nicht sehr. Wenn wir es nicht tun, dann wirst du zum Arzt gehen müssen – ob du willst oder nicht.«
Eine sonderbare Formulierung, fand Brenner. Zumindest für jemanden, der nicht wußte, was mit Astrid los war.
Das Mädchen überraschte ihn erneut, indem es sich nervös mit der freien Hand über das Gesicht fuhr und dann sagte: »Also gut. Aber machen Sie schnell, ehe ich's mir anders überlege. «
Sebastian beeilte sich tatsächlich, aber er arbeitete trotzdem sehr sorgfältig und, obwohl seine Hände eher geeignet schienen, mit Eisenbahnschwellen zu jonglieren, mit erstaunlichem Geschick; schon um Astrid nur ein Mindestmaß an Schmerzen zuzufügen. Trotzdem war ihr Gesicht aschgrau, als er den letzten von insgesamt fünf Stichen gesetzt und den Faden mit einer winzigen Schere dicht über der Haut abgeschnitten hatte.
»Gleich ist es vorbei«, sagte er. »Einen Moment noch. Ich trage eine Salbe auf, die kühlt und den Schmerz ein wenig lindert. «
Astrid hatte während der ganzen, trotz allem sicher sehr schmerzhaften Prozedur keinen Laut von sich gegeben, aber nun schwankte sie ein wenig auf ihrem Stuhl. »Ich glaube, mir wird schlecht«, sagte sie. »Wo haben Sie hier – ?«
» DieToilette?« Sebastian deutete auf dieTür. »Auf der anderen Seite. Es ist die einzigeTür. Brauchst du Hilfe?«
Sie stand auf, hielt sich einen Moment lang mit der unverletzten Hand an derTischkante fest und ging dann mit unsicheren, kleinen Schritten los. Sie atmete langsam und gezwungen tief. »Beim Kotzen? Danke. Das … schaffe ich noch alleine.«
Brenner konnte ein Lächeln nicht mehr ganz unterdrücken, als er Sebastians Verblüffung registrierte. Trotzdem behielt er Astrid aufmerksam im Auge und folgte ihr, um nötigenfalls sofort zugreifen zu können. Sie atmete jetzt schneller, und er konnte sehen, daß sie immer krampfhafter schluckte, um sich nicht schon hier drinnen übergeben zu müssen.
Er begleitete sie bis zur Tür, schloß sie dann aber fast hastig hinter ihr, als sie zu laufen begann und er begriff, daß sie
es schaffen würde. Brenner verspürte eine sonderbare Mischung aus Mitleid und Bewunderung für ihre Tapferkeit. Wenn es etwas gab, was er fürchtete, dann waren es Schmerzen.
Als er sich wieder herumdrehte, begegnete er Sebastians Blick. Einem sehr sonderbaren Blick, der auf eine sehr sonderbare Weise auf ihn gerichtet war. Brenner glaubte regelrecht zu sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Plötzlich erinnerte er sich wieder an jenen anderen, auch nicht sehr angenehmen Blick, mit dem Sebastian ihn und das Mädchen gemustert hatte, als er sie draußen im Wald auflas und daran, wie nahe sie beieinander gestanden hatten, als er gerade das Zimmer betrat. Ohne daß er selbst wirklich sagen konnte, warum, fühlte er sich mit einem Male genötigt, sich zu verteidigen.
»Ich glaube, ich muß Ihnen erklären – «
»Das war sehr freundlich, was sie gerade getan haben«, sagte Sebastian.
Brenner verstand nicht einmal, was er meinte. »Was?«
»Ich habe einen Teil Ihres Gespräches mit angehört«, erklärte Sebastian. Er deutete auf das Tablett auf demTisch, dann zurTür. »Ich hatte ein wenig Mühe, dieTür zu öffnen, so daß ich unfreiwillig lauschen mußte. Es ist sonst nicht meine Art, aber in diesem Fall bin ich froh, es getan zu haben. Ich hatte einen … «, er wirkte plötzlich fast verlegen, »… anderen Eindruck, als ich Sie vorhin traf. Einen falschen.«
»Sie ist ein bißchen jung für mich«, sagte Brenner. Sebastians Worte machten ihn nun verlegen. »Außerdem war es nicht ganz so uneigennützig, wie Sie vielleicht glauben.« »So?«
»Das Mädchen tut mir leid, und?« fragte Brenner. Verrückt aber er hatte immer mehr das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, nur weil er für eine Sekunde freundlich gewesen war. Wieso eigentlich, verdammt? »Außerdem kann ich mir so für die drei Groschen einesTelefonanrufes das Gefühl verschaffen, ein gutes Werk getan zu haben.«
»Tun Sie gern Gutes?« wollte Sebastian wissen.
Brenner war nun vollends verstört. Unter allen anderen denkbaren Umständen und an jedem anderen vorstellbaren Ort wäre dieses Gespräch ebenso pathetisch wie albern gewesen, aber hier nicht. Vielleicht lag es einfach an der simplen Tatsache, daß Sebastian seine Holzfällerkleidung gegen eine Mönchskutte eingetauscht hatte – selbst für einen so überzeugten Agnostiker, wie Brenner einer zu sein sich einbildete, noch immer die Kleider jener Männer, die traditionell für Begriffe wie Vertrauen, Verständnis und Selbstlosigkeit standen. Wie fast jeder fühlte er sich in einer solchen Umgebung befangen.
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