Fast widerwillig drehte er sich zu ihr herum. Ob er sie verstehen konnte? Beinahe hätte er gelacht. Aber er beherrschte sich und sagte nur sehr ruhig: »Ja, ich glaube schon.«
»Das war alles«, fuhr Astrid leise fort. Sie sprach leise. Ihre Stimme klang nicht einmal bitter, aber es war eine Ausdruckslosigkeit darin, die fast schlimmer war. »Zwei Wochen später bin ich weg. Ich habe ihnen einen Zettel dagelassen, daß sie sich keine Sorgen machen sollen. Mein Vater schuftet sich krumm für sein beschissenes Reiheneckhaus mit Garage, meine Mutter geht dreimal die Woche putzen, wäscht die dreckigen Unterhosen von irgendwelchen fremden Bälgern und tut noch so, als mache es ihr nichts aus, und einmal im Jahr dann nach Ibiza, das ist das Höchste.«
»Das ist mehr, als viele andere haben«, sagte Brenner. »Aber das kann doch nicht alles sein! Das Leben kann doch nicht nur aus Arbeit und Buckeln bestehen.«
»Das tut es aber«, antwortete Brenner. Die Worte des Mädchens machten ihn trauriger, als sie begreifen konnte. Auch er hatte einmal ganz genau so gedacht – er erinnerte sich sogar, einem seiner Freunde einmal fast wörtlich dasselbe gesagt zu haben. Nur hatte er nicht dieselben Konsequenzen wie sie gezogen. Vielleicht, weil er zu vernünftig gewesen war. Vielleicht auch zu feige. War das überhaupt ein Unterschied?
»Hast du versucht, mit deinen Eltern darüber zu sprechen?« fragte er.
Sie nickte und sog hektisch an ihrer Zigarette. »Sie haben nicht einmal begriffen, was ich meinte. Mein Vater hat mir einen Fünfziger in die Hand gedrückt und gemeint, ich solle mir was Hübsches kaufen. «
»Und danach bist du auf und davon«, vermutete Brenner. Sie antwortete nicht.
»Und? Geht es dir seitdem besser?«
»Klar«, antwortete Astrid. »Das siehst du doch, oder?«
»Dann geh zurück«, sagte Brenner. »Mach die Schule zu Ende und – «
»– und studiere, oder lern einen vernünftigen Beruf?« fiel ihm Astrid ins Wort. »Mensch, hör bloß mit dem Scheiß auf. Das kann ich wirklich nicht mehr hören.«
»Ich nehme an, man hat es dir schon zu oft geraten«, vermutete Brenner. »Weißt du, das liegt vielleicht daran, daß es die Wahrheit ist.«
»Ach, leck mich doch – !« schnappte Astrid. Sie drehte sich mit einem Ruck weg und starrte zu Boden, aber er sah, daß sie nur noch mühsam um ihre Beherrschung kämpfte. Er hatte ihr nichts Neues gesagt. Er vermutete, daß sie erst seit ein paar Wochen unterwegs war, doch sie mußte schon längst begriffen haben, wie aussichtslos diese Flucht war. Man konnte nicht vor etwas weglaufen, das überall war.
»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er leise und so sanft, wie er konnte. Astrid zögerte. Mit sichtbarem Widerwillen hob sie den Kopf und sah ihn an.
»Du gibst mir die Telefonnummer deiner Eltern – « Er hob beruhigend die Hand, als sie auffahren wollte. »Und ich rufe sie morgen an und sage ihnen, daß es dir gutgeht. Mehr nicht. Ich verspreche dir, daß ich weder meinen Namen nenne noch ihnen verrate, wo ich dich getroffen habe. Ich sage ihnen nur, daß du in Ordnung bist und sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Was hältst du davon?«
Astrid war sehr verunsichert. Vielleicht, weil dieser Vorschlag so überraschend kam, nach allem, was zwischen ihnen passiert war. Brenner überraschte er ja fast selbst. »Was bist du?« fragte sie. »So eine Art Freizeit-Samariter? Von denen habe ich gestrichen die Schnauze voll, weißt du?«
»Ich will dir nur einen Gefallen tun«, sagte er. »Er kostet dich nichts. Und mir gibt er das Gefühl, jemandem geholfen zu haben.«
»Und woher weiß ich, daß ich dir trauen kann?« fragte sie. »Gar nicht«, antwortete er ruhig. »Aber wenn ich vorhätte, dich reinzulegen, würde ich es kaum so anfangen. Was hätte ich davon, deinen Eltern zu verraten, wo ich dich getroffen habe? Du wärst längst über alle Berge, bis sie hier sind. Außerdem was sollte mich daran hindern, eine kleine Absprache mit unserem Wohltäter hier zu treffen, damit er die Polizei holt anstelle des ADAC?«
Vermutlich war es die Offenheit dieser Worte, die sie überzeugte; wenigstens zum Teil. »Morgen?« vergewisserte sie sich. »Nicht eher?«
»Keinen Moment früher«, antwortete Brenner. »Ehrenwort. «
Astrid ließ noch eine Sekunde verstreichen, in der sie ihn scharf ansah, dann trat sie an den Stuhl, auf dem sie ihren Rucksack abgestellt hatte, klappte ihn auf und begann mit hektischen Bewegungen darin herumzusuchen. Nach einem Augenblick förderte sie einen Kugelschreiber und ein zerlesenes Romanheft zutage. Sorgsam trennte sie ein Stück vom unteren Rand einer Seite ab, kritzelte eine Nummer darauf und reichte ihm das Zettelchen. Es war kaum größer als eine Briefmarke. Brenner warf einen flüchtigen Blick darauf, nur um sicher zu sein, daß er den Zettel nicht morgen herausholen und feststellen mußte, daß er ihre Schrift nicht entziffern konnte, aber Astrids Handschrift war gestochen scharf. Fast unbewußt registrierte er, daß er die Vorwahlnummer kannte. Köln. Allzu weit war sie bisher nicht gekommen.
»Wenn du zwischen drei und fünf anrufst, ist mein Alter noch nicht da«, sagte Astrid. »Ist vielleicht besser, wenn du nur mit meiner Mutter redest.«
Brenner faltete das Papier zusammen, zog seine Geldbörse heraus und schob es sorgfältig hinter die Kreditkarte, deren goldfarbenes Plastik ihn höhnisch anzugrinsen schien. »Soll ich ihr irgend etwas ausrichten?«
»Nein«, sagte Astrid. Sie klang fast erschrocken, und Brenner gemahnte sich in Gedanken zur Vorsicht. Wenn er ihr Vertrauen noch einmal verspielte, dann endgültig.
Aber er kam nicht in die Versuchung, denn in diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Sebastian kam zurück und sie erlebten eine Überraschung. Der Riese hatte die pelzgefütterte Jacke und die schweren Hosen gegen eine braune Kutte eingetauscht, deren einziger Schmuck aus einem schlichten Holzkreuz bestand, das an einem dünnen Strick an seiner Hüfte befestigt war. Trotz der beißenden Kälte trug er jetzt auch keine Winterstiefel mehr, wie vorhin im Wagen, sondern einfache Schnürsandalen, wie sie schon bei den römischen Legionären Mode gewesen waren. Ihrem Zustand nach zu urteilen, mußten sie auch ungefähr aus dieser Zeit stammen. Zumindest hatte das Rätselraten jetzt ein Ende, dachte Brenner. Sie waren in einem Kloster.
Sebastian kam nicht mit leeren Händen. Er balancierte ein hölzernes Tablett vor der Brust, das selbst für seine gewaltigen Pranken zu groß schien und auf dem eine ebenfalls hölzerne Schale mit dampfend heißem Wasser, saubere weiße Tücher, Verbandszeug sowie ein großerTonkrug und zwei dazu passende Becher aus dem gleichen Material standen.
Brenner ging ihm entgegen, um ihm seine Last abzunehmen, aber Sebastian schüttelte nur den Kopf und deutete auf die gleiche Weise zurTür. Er hatte sie mit dem Fuß aufgestoßen, aber keine Hand mehr frei, um sie zu schließen. Während Brenner ihm die kleine Mühe abnahm, trug er seinTablett zumTisch und lud es unter gewaltigem Scheppern darauf ab.
»Es tut mir leid, daß es ein bißchen gedauert hatte«, sagte er. »Aber ich mußte warten, bis das Wasser heiß war. Ich glaube, ein warmes Getränk wird euch jetzt guttun.« Er setzte den Krug mit einem Knall vomTablett herunter auf denTisch, beförderte die beiden Becher hinterher und goß ein. Ein sonderbarer, sehr intensiver Geruch drang in Brenners Nase; nicht unangenehm, aber fremd.
»Früchtetee«, sagte Sebastian.
Brenner war ein bißchen enttäuscht. Er hätte seine rechte Hand für eine Tasse Kaffee gegeben – aber was hatte er erwartet, nachdem Sebastian seine Verkleidung abgelegt hatte? Er gab sich zumindest Mühe, sich seine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. Astrid war weniger diplomatisch was auch sonst? Sie griff mit beiden Händen nach dem Becher, nippte vorsichtig daran und verzog das Gesicht. »Scheußlich«, sagte sie. »Und so etwas trinkt ihr hier wirklich?«
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