Er streckte die Hand nach einem Schalter aus, zögerte und legte schließlich einen anderen um. Zu dem guten Dutzend winziger Kontrollämpchen auf dem Armaturenbrett vor ihm gesellte sich ein weiteres.
»Kannst du es, oder kannst du es nicht?« fragte Salid. Seine Stimme klang ganz ruhig. Er empfand nicht einmal wirklichen Zorn. Er würde den Mann zur Verantwortung ziehen, ebenso wie den, der ihm diesen Piloten vermittelt hatte; aber später. Im Moment zählte nur, daß sie hier wegkamen, und das schnell. Ihr Zeitplan war gut, aber sehr eng. Sie konnten sich keine Verzögerungen leisten. Alles in allem waren seit dem ersten Schuß gut vier Minuten vergangen, und wahrscheinlich würden auf der nicht einmal dreißig Kilometer entfernten Rhein-MainAir-Base jetzt schon die Alarmsirenen gellen und die Besatzungen zu ihren Hubschraubern hasten.
Statt zu antworten, betätigte der Mann eine Anzahl weiterer Schalter. Salid hörte ein feines Singen, das rasch lauter wurde. Gleichzeitig begannen sich die Rotorblätter über der durchsichtigen Kanzel zu drehen; langsam, aber schneller werdend. Salid spürte Erleichterung, aber nicht sehr viel. Noch waren sie nicht in der Luft. Und vor allem noch nicht wieder unten.
Er blickte an dem Piloten vorbei nach draußen. Das Feuer hatte weiter um sich gegriffen. Die Baracke brannte jetzt wie ein Scheiterhaufen. Die Glut war so hell, daß sie ihm dieTränen in die Augen trieb. Dort drinnen lebte niemand mehr.
Durch den Rauch kamen zwei Gestalten in gefleckten Tarnanzügen auf die Maschine zu. Eine von ihnen stolperte plötzlich, fiel auf die Knie und hob in einer grotesk langsam anmutenden Bewegung die Hände an das Gesicht. Wo ihr rechtes Auge gewesen war, gähnte jetzt ein blutiger Krater. Der zweite Mann rannte unbeeindruckt weiter, umrundete die
Maschine und quetschte sich an Salid vorbei auf die schmale
hintere Sitzbank.
»Los! « befahl Salid.
Der Pilot zögerte einen winzigen Moment. Sie waren zu sechst gekommen, jetzt waren sie noch drei. Aber ein einziger Blick Salids brachte ihn sehr rasch dazu, mit beiden Händen den Steuerknüppel zu umklammern und hastig die Pedale zu betätigen.
Das Heulen des Rotors wurde lauter. Aus den drei Rotorblättern über der Kanzel war längst ein rasender Kreis aus reiner Bewegung geworden, dessen Miniatur-Taifun den Schnee in weitem Umkreis hochwirbelte. Die Maschine begann zu zittern – und löste sich langsam vom Boden.
Salid gestattete sich ein flüchtiges Gefühl von Erleichterung. Drei von sechs. Es hätte schlimmer kommen können. Die drei anderen waren freudig gestorben, in dem Bewußtsein, einer gerechten Sache – ihrer Sache, die schon durch diese Definition automatisch zur richtigen wurde – zu dienen. Diese Narren. Aber auch das gehörte zu den Geheimnissen seines Erfolgs. Es brauchte Narren, wie sie es waren, damit Männer wie er überleben konnten.
Bei diesem Gedanken breitete sich ein dünnes, kaum sichtbares Lächeln auf seinem bärtigen Gesicht aus. Aber es blieb nicht sehr lange dort; vielleicht eine Sekunde, vielleicht zwei.
Genau so lange, wie der Helikopter brauchte, um zwanzig Meter weit in die Höhe zu klettern und die stumpfe Plexiglaskanzel nach Westen zu drehen.
Denn in diesem Moment sah er den heranrasenden Apache. »Wo sind wir da bloß hingeraten?«
Die gleiche Frage wie Brenner stellte Astrid gute zehn Minuten später laut und – Brenner zweifelte keine Sekunde daran – ganz bewußt so, daß ihr Retter sie hören mußte, aber nicht sicher sein konnte, ob er es auch tatsächlich sollte. Es war das erste Mal, daß sich ihre liebreizende Art wieder bemerkbar machte, seit sie Sebastian – ihr Retter hatte sich mittlerweile
vorgestellt, ansonsten aber nichts über sich oder diesen sonderbaren Ort erzählt – getroffen hatten, und ihr vermeintlicher Fauxpas löste auf dem bärtigen Gesicht des Riesen ein gutmütiges Lächeln aus. Wahrscheinlich, dachte Brenner, würde er sich das sehr schnell abgewöhnen, wenn er Astrid erst einmal ein bißchen näher kennenlernte.
Aber bei allem Ärger darüber, daß die Kleine offenbar gewillt schien, sich – und damit ganz automatisch auch ihn – auch hier nach Kräften unbeliebt zu machen, konnte er sie fast verstehen. Er selbst hätte es etwas diplomatischer und vor allem leiser ausgedrückt, doch auch er fragte sich immer mehr, was das hier für ein sonderbarer Ort war.
»Vielleicht ist es eine Art Kloster«, antwortete er nun, mit einiger Verspätung, auf ihre Frage. »Oder eine Sekte, die sich hier verkrochen hat, um ungestört zu sein.«
Astrid stand auf und begann in dem winzigen Raum auf und ab zu gehen, um sich ein bißchen Wärme zu verschaffen. Die Kammer ähnelte irgendwie Sebastians Auto, nicht nur, was ihr Alter und ihre Schlichtheit anging. Es war hier drinnen genauso kalt. Und genauso unbequem. Und das lag nicht etwa daran, daß die Heizung nicht funktioniert hätte. Es gab keine. Ebensowenig wie einen Ofen oder irgendeine andere Möglichkeit, sich aufzuwärmen.
»Ich habe kein Kreuz über derTür gesehen«, antwortete sie. »Außerdem dachte ich immer, daß in einem Kloster Hilfesuchende mit offenen Armen empfangen werden. Wie kommst du darauf?«
»Erinnerst du dich, daß er von >Bruder Antonius< gesprochen hat?«
»Der, der ihn wahrscheinlich steinigen wird, weil er uns nicht hat erfrieren lassen?« Sie machte eine Bewegung, die eine komplizierte, aber eindeutige Mischung aus Nicken und Kopfschütteln darstellte. »Trotzdem – das hier sieht nicht wie ein Kloster aus. Ich finde, es sieht eher aus wie Frankensteins Schloß. «
Brenner lächelte flüchtig und trat ans Fenster. »So ein großer Unterschied ist das vielleicht gar nicht«, sagte er. »Im Mittelalter dienten die Klöster öfter als einziger Unterschlupf vor Räubern oder feindlichen Soldaten oder in besonders harten Wintern. Viele waren massiver erbaut als so manche Burg.« »Du kennst dich mit so etwas aus, wie?«
»Ich interessiere mich ein wenig für Geschichte«, antwortete er achselzuckend. Er versuchte, einen Blick nach draußen zu werfen, doch was er durch das schmale Fenster sah – das zwar kein Glas hatte, dafür aber ein sehr massives Gitter-, war wenig aufschlußreich. Der Waldrand, einige Meter Straße und ein kleines Stück des hölzernen Steges, über den sie gerumpelt waren. Das Gebäude lag an einem schmalen Fluß, dessen Oberfläche zumTeil noch zugefroren war. Und damit hörte sein Wissen darüber auch schon beinahe auf.
Sebastian hatte in dem gewaltigen Torgewölbe angehalten und sie in diesen Raum unmittelbar hinter der Außenmauer bugsiert, ehe Brenner Gelegenheit gehabt hatte, auch nur einen Blick in den Innenhof zu werfen. Aber das wenige, was er gesehen hatte, schien seine Vermutung zu bestätigen. Das Gewölbe war äußerst massiv und aus tonnenschweren, ohne sichtbaren Mörtel aufeinandergesetzten Steinquadern errichtet. Aus der Decke direkt hinter dem Tor lugten die Spitzen eines Fallgitters, das vermutlich seit zwei-oder auch fünfhundert Jahren festgerostet und nicht mehr von der Stelle zu bewegen war. Und die kleine Brücke, die über den Fluß führte, war gar keine Brücke, sondern eine Zugbrücke, die hochgeklappt ein äußerst massives Tor ergeben mußte. Im Inneren des Torgewölbes gab es keine Fenster, sondern nur eine Anzahl schmaler Schießscharten.
Alles in allem war es wohl doch eher eine Burg als ein Kloster. Natürlich war der Unterschied doch ein wenig größer, als er gerade behauptet hatte, aber er verspürte wenig Lust, Astrid jetzt einen Vortrag über mittelalterliche Architektur zu halten. »Das hier muß das Wachzimmer gewesen sein«, sagte er. »Man kann den Waldrand und die Brücke im Auge behalten, ohne selbst gesehen oder getroffen zu werden.«
»Interessant«, sagte Astrid, mit einer Stimme, wie sie desinteressierter kaum noch klingen konnte. »Das Badezimmer würde mich im Moment aber noch mehr interessieren. Ein Königreich für eine Wanne voll heißem Wasser! «
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