Kenneally wurde hellhörig. Das war eine sehr sonderbare Wortwahl, fand er – aber sie kam gewiß nicht von ungefähr. »Warum?« fragte er. »Was haben sie Ihnen getan?«
Adrianus lächelte traurig. »Was immer«, sagte er, »diese drei in ihrem Leben auch getan haben mögen, es hat nichts mit dem zu tun, weshalb wir hier sind, Kenneally. Sehen Sie, das ist vielleicht der Preis, den ich zu zahlen habe. Ich gebe Ihnen den Befehl, drei unschuldige Leben auszulöschen, und ich allein werde die Verantwortung dafür tragen müssen. Nicht Sie. Ich erteile Ihnen die Absolution, Kenneally, soweit ich das kann. Es ist meine Verantwortung. Was immer uns erwartet, wenn … es vorbei ist: Ich werde vor meinem Richter stehen, nicht Sie.« Kenneally war nicht einmal sicher, ob er Adrianus' Worte richtig verstand, aber wenn er es tat und all dieses Gerede von Absolution, von Verantwortung und dem Letzten Gericht in religiösem Sinne gemeint war, dann war es nicht so einfach. Ganz und gar nicht. Außerdem: Kenneally glaubte nicht einmal an Gott. Er war das Kind überzeugter Atheisten, und er hatte
sich diese Überzeugung zu eigen gemacht, seit er selbständig denken konnte.
»Und wenn ich mich weigere?« fragte er. »Sie haben es selbst gesagt: Die drei sind unschuldig – obwohl das dummes Zeug ist, wenigstens, was Salid angeht. Der Mistkerl hat mehr Menschen auf dem Gewissen, als ich in meinem Leben Hot Dogs gegessen habe.« Er machte eine abwehrende Bewegung, als Adrianus widersprechen wollte. »Also, was, wenn ich mich weigere? Sie haben vielleicht recht, und ich habe Menschenleben ausgelöscht, aber ich habe es nie grundlos getan.«
»Es gibt einen Grund«, antwortete Adrianus ernst. »Aber er heißt nicht Salid. Es ist das Kloster, Kenneally. Der, der darin eingekerkert war. Und der nun frei ist.«
»Wer?« fragte Kenneally. »Von wem sprechen Sie, Adrianus?«
Adrianus sah ihn länger als eine Minute schweigend und durchdringend an. Dann sagte er es ihm.
Die Straßensperre, von der Heidmann gesprochen hatte, war tatsächlich da, aber sie hielt sie nicht auf, und auch Brenners Überlegungen, wie der Polizeibeamte sein sonderbares Äußeres erklären wollte, erwiesen sich als überflüssig. Die beiden quergestellten Geländewagen, die die Straße blockierten, waren ebenso verlassen wie der improvisierte Lagerplatz, den sie ein Stückweit dahinter fanden: ein leeres Benzinfaß, in dessen näherem Umkreis der Schnee geschmolzen war und das noch verbrannt roch. Salid, der ausgestiegen war, um sich umzusehen, kam mit einem Gewehr und drei Reservemagazinen zurück, und als sie weiterfuhren, sah Brenner weitere weggeworfene Gegenstände im Schnee am Straßenrand liegen. Offenbar war die Sperre in aller Hast verlassen worden – um nicht zu sagen, die Männer, die hier Dienst getan hatten, waren geflohen. Brenner fragte sich nicht, wovor. Er wollte es lieber nicht wissen.
In brütendes Schweigen versunken, fuhren sie weiter. Salid beschäftigte sich intensiv damit, die gefundene Waffe auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, wobei er jedes einzelneTeil pedantisch sauberwischte und mehrmals auf seine Funktion überprüfte. Johannes starrte weiter ins Leere. Vorhin, kurz bevor sie auf Heidmann gestoßen waren, hatte es für einen Moment so ausgesehen, als erwache er noch einmal aus dem unheimlichen Zustand, in den er versunken war, aber Brenner glaubte mittlerweile nicht mehr daran, daß Johannes' Geist noch einmal den Weg zurück aus seiner ganz privaten Hölle finden würde. Er war verdammt. Er hatte das Schlimmste getan, das ein Mann wie er tun konnte, und er zahlte den Preis dafür. Nicht irgendwann, nicht nach irgendeinem jüngsten Gericht, sondern hier und jetzt.
Vielleicht war er von ihnen dreien am besten dran.
Nach einer geraumen Weile hielt er die Untätigkeit einfach nicht mehr aus. Er stand auf und ging wieder nach vorne, setzte sich diesmal aber nicht auf den freien Platz neben Heidmann, sondern stützte sich mit beiden Händen auf der Rückenlehne seines Sitzes auf und beugte sich vor, um durch die beschlagene Windschutzscheibe einen Blick in den Himmel hinauf zu werfen. Brenner wußte nicht, wie lange sie jetzt unterwegs waren, und er wußte auch nicht mehr, inwieweit er seiner inneren Uhr noch trauen konnte; aber es mußten Stunden vergangen sein, seit sie das Krankenhaus verlassen hatten. Es hätte längst hell sein müssen.
»Es ist jetzt nicht mehr weit«, sagte Heidmann. »Dort vorne halte ich an.«
Brenners Blick folgte der Richtung seiner Kopfbewegung, und Brenner erlebte eine Überraschung. Im ersten Moment hatte er nicht einmal verstanden, was Heidmann überhaupt meinte, aber plötzlich erkannte er die Straße wieder – die langgezogene, leicht abfallende Kurve, den verschneiten Waldrand zu beiden Seiten, und die dreieckige, kaum sichtbare Lücke im Unterholz, nur noch hundert Meter entfernt auf der linken Seite. Vor zwei oder drei Minuten mußten sie die Stelle passiert haben, an der das Mädchen und er mit dem Mitsubishi liegengeblieben waren. Dort vorne begann der Weg, der zum Kloster führte.
»Ich kann Sie nicht weiter begleiten«, sagte Heidmann. »Ich weiß«, antwortete Brenner. Der Weg war für einen Wagen nicht passierbar, aber das war es nicht, was Heidmann gemeint hatte. Seine Aufgabe war erfüllt. Er hätte sie auch nicht weiter begleitet, wenn dort vorne eine vierspurige Autobahn durch den Wald geführt hätte. »Aber Sie haben mir immer noch nicht geantwortet. «
Heidmann sah ihn fragend an.
»Ohne Sie hätten wir es nicht geschafft«, sagte Brenner. »Warum haben Sie das getan?«
»Weil ich es Ihnen schuldig war«, antwortete Heidmann. Mehr nicht. In seiner Stimme war kein Pathos. Er lächelte weder, noch machte er irgendeine erklärende Geste oder sonst etwas, aber das war auch nicht nötig. Brenner verstand auch so, was er meinte. Vielleicht war diese Antwort sogar die einzige, die er überhaupt akzeptiert hätte.
Er ging zu Salid und Johannes zurück, sagte aber nichts, sondern wartete, bis der Palästinenser von sich aus zu ihm hochsah. »Wir sind da?«
Brenner nickte. »Den Rest des Weges müssen wir laufen.« Er deutete auf Johannes. »Was ist mit ihm? Schafft er es?«
Salid zuckte mit den Schultern, aber als er aufstand, erhob sich auch Johannes und trat neben ihn. Es war ein durch und durch unheimlicher Anblick: Johannes' Augen blieben so leer, wie sie seit einer Stunde waren, und seine Bewegungen wirkten irgendwie … falsch. Kaum mehr wie die eines lebenden Menschen, sondern vielmehr wie die eines Roboters, perfekt imitiert und trotzdem nicht vollends überzeugend.
Es wäre besser, wenn sie ihn hierlassen würden, überlegte Brenner. Besser für Johannes, und wahrscheinlich auch besser für sie – vor allem besser für sie. Ohne daß er eine entsprechende Frage stellen mußte, spürte er, daß hinter SalidsStirn die gleichen Überlegungen abliefen. Aber weder er noch Salid sprach diesen Gedanken aus. Sie waren zu dritt aufgebrochen, und sie würden zu dritt ankommen, so oder gar nicht. Wo immer ihr Ziel lag.
Der Wagen hielt an. Salid stieß die Hecktür auf und sprang ins Freie, noch bevor sie ganz zum Stehen gekommen waren, und für einen Moment fiel er wieder in seine alten Verhaltensmuster zurück: Er stand mit gespreizten Beinen da, ein wenig nach vorne gebeugt und die Waffe im Anschlag. Aber an seinen Bewegungen war plötzlich überhaupt nichts Bedrohliches mehr. Er kam Brenner vielmehr wie ein Kind vor, das Krieg spielte.
»Alles in Ordnung«, rief er. »Ihr könnt aussteigen.« Brenner lächelte flüchtig. Er war ein Kind, das Krieg spielte. Vielleicht war er sein Lebtag lang nichts anderes gewesen. Brenner und Johannes stiegen hintereinander aus, wobei Brenner automatisch seine Hand ausstreckte, um dem Jesuiten zu helfen. Johannes ignorierte die ausgestreckte Rechte jedoch und stieg aus eigener Kraft aus dem Wagen. Der Transporter rollte los, noch bevor Brenner die Türen schließen konnte. Die Räder drehten auf dem spiegelglatt gefrorenen Boden im ersten Moment durch, als Heidmann viel zuviel Gas gab. Als sie schließlich griffen, begann der Wagen zu schlingern, stellte sich quer und sprang dann mit einem Satz wieder in die ursprungliche Richtung.
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