»Er ist dieserTerrorist, nicht?«
Unter allen anderen denkbaren Umständen wäre es einfach grotesk gewesen, auch nur anzunehmen, daß der Mann, der ihnen vermutlich allen das Leben gerettet hatte, nicht einmal genau wußte, wer sie waren. Jetzt erschien es Brenner auf eine sonderbare Weise sogar logisch. Ohne seine Frage zu beantworten, fragte er: »Wie ist Ihr Name?«
»Heidmann«, antwortete der Fremde. »Aber das spielt keine Rolle mehr. Ich war einmal Polizist … Es ist lange her.« Brenner vermutete, daß es ungefähr eine Stunde her war; allerhöchstens. »Und was sind Sie jetzt?« fragte er.
Der andere zuckte mit den Schultern, und die Bewegung übertrug sich über seine Hände, die mit viel zuviel Kraft das Lenkrad hielten, bis auf die Räder. Der Wagen machte einen sanften Schlenker nach links und einen etwas weniger sanften nach rechts, ehe Heidmann ihn wieder vollends in der Gewalt hatte. »Auf jeden Fall ein schlechter Autofahrer«, sagte er lächelnd.
Brenner blieb ernst. »Warum helfen Sie uns?« fragte er.
Er bekam nicht sofort eine Antwort. Heidmann starrte eine geraume Weile einfach vor sich ins Leere. Aber Brenner hatte das sichere Gefühl, daß er es nicht nur tat, um in dem Schneegestöber, das inzwischen eingesetzt hatte, die Straße erkennen zu können. Schließlich sagte er: »Ich denke, weil ich mich für das Leben entschieden habe.«
Das war eine sehr sonderbare Antwort – direkt unheimlich, fand Brenner. Vor allem, wenn sie aus dem Mund eines Mannes kam, der nach allem, was er von Medizin zu verstehen glaubte, eigentlich tot sein müßte. Er betrachtete Heidmanns Gesicht im grünen Widerschein des Armaturenbrettes genauer; nicht heimlich und aus den Augenwinkeln, sondern ganz offen, so daß dieser es bemerken mußte. Wenn es ihn störte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken.
Heidmanns Gesicht war eindeutig das eines lebenden Menschen, nicht eines Zombies. Die klaffende Wunde auf seiner Wange war schlimm, aber nicht lebensgefährlich; wahrscheinlich nicht einmal wirklich gefährlich. Aber sein Mantel war vorne auseinandergefallen, jetzt, wo er saß, und Brenner konnte erkennen, daß der dunkle Fleck auf seinem Hemd ein noch dunkleres Zentrum hatte: einen kreisrunden, gut zehnpfenniggroßen Krater, der mit geronnenem Blut gefüllt war. Das passende – größere – Gegenstück befand sich auf Heidmanns Rücken. Sein Mantel war schwarz von Blut, aber auch verkohlt. Der Mann hatte einfach kein Recht mehr, zu leben. Er tat es trotzdem.
»Sie sollten nicht erschrecken«, sagte Heidmann plötzlich. Er starrte weiter nach vorne, aber seine Worte machten klar, daß er Brenners Blick bemerkt hatte. Plötzlich war es Brenner doch peinlich, ihn angestarrt zu haben.
»Aber Sie müßten tot sein! «
»Vielleicht bin ich das«, sagte Heidmann lächelnd. »Vielleicht müssen wir unsere Begriffe vonTod und Leben auch neu definieren.« Er zuckte abermals mit den Schultern, diesmal aber weit vorsichtiger, so daß der Wagen nicht wieder aus der Spur geriet, sondern stur weiter geradeaus seinem Weg
in den Sturm hinein folgte. »Es spielt keine Rolle. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.«
Damit hatte er seine Frage eindeutig nicht beantwortet; allerdings auch ebenso eindeutig auf eine Art, die klarmachte, daß er es nicht wollte. Brenner sah ihn noch einen Moment lang nachdenklich an, dann drehte er sich ein wenig im Sitz herum und starrte in die gleiche Richtung wie Heidmann: durch die beschlagene Frontscheibe nach draußen.
Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Der Schneefall hatte zugenommen, und zudem schien der Wind noch an Kraft gewonnen zu haben, so daß ihnen die wirbelnden weißen Flocken nun fast waagerecht entgegenkamen. Die Sicht betrug deutlich weniger als dreißig Meter, obwohl die Scheinwerfer des Wagens voll aufgeblendet waren. Sie hatten die Stadt längst hinter sich gebracht und fuhren über eine menschenleere Landstraße. Beiderseits der asphaltierten Strecke hatten sich kniehohe Schneeverwehungen gebildet. Seit der Schneefall eingesetzt hatte, schienen sie das erste Fahrzeug zu sein, das die Straße befuhr. Die Schneedecke vor ihnen war nahezu unversehrt, und manchmal hatte er das Gefühl, daß die Straße einfach im Nichts verschwand. Er fragte sich, wie Heidmann es unter diesen Umständen fertigbrachte, den Wagen überhaupt noch in der Spur zu halten. Selbst er hätte vermutlich Schwierigkeiten gehabt, den Wagen nicht schon in den ersten Minuten in den Straßengraben zu lenken.
»Es müßte längst hell sein«, murmelte Salid hinter ihnen. Brenner wandte den Kopf und bemerkte erst jetzt, daß der Palästinenser aufgestanden und zu ihnen nach vorne gekommen war. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Rückenlehnen von Brenners und Heidmanns Sitzen auf und spähte aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe hinaus; nach oben, dorthin, wo der Himmel sein sollte, und wo nur eine brodelnde graue Masse war, die Schnee darstellen konnte, aber auch alles andere.
»Wie spät ist es?« fragte Brenner.
Salid zuckte mit den Schultern und antwortete, ohne sich die Mühe zu machen, auf die Uhr zu sehen. »Keine Ahnung. Meine Uhr ist stehengeblieben.«
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Heidmann. »Sie sollten nach hinten gehen.«
»Warum?«
Der Ex-Polizeibeamte machte eine Kopfbewegung nach vorne, in das wirbelnde weiße Chaos hinein. »Es ist nicht mehr weit bis zum Sperrgebiet. Dort vorne ist eine Straßensperre. Es ist besser, wenn man sie nicht sieht.«
»Eine Straßensperre?« Salid spannte sich fast unmerklich, aber Heidmann machte rasch eine beruhigende Geste. Brenner wurde ein ganz kleines bißchen nervös, als Heidmann die linke Hand vom Lenkrad nahm und damit in den Mantel griff. Aber das Schicksal schien immer noch auf ihrer Seite zu sein: Der Wagen blieb treu in der Spur, und sie landeten nicht im Straßengraben.
»Keine Sorge. Niemand wird dumme Fragen stellen.« Er zog einen in transparenten Kunststoff eingeschweißten Ausweis hervor und reichte ihn Salid. Brenner sah, wie Salid überrascht und wohl auch ein bißchen ungläubig die Stirn runzelte, als er erkannte, worum es sich handelte: um Heidmanns Dienstausweis, der ihn als Polizeibeamten identifizierte. Aber zu seiner Überraschung sagte Salid nichts, sondern reichte Heidmann den Paß nach ein paar Sekunden zurück. Ebenso wortlos wandte er sich nach einigen weiteren Sekunden um und ging in den hinterenTeil des Wagens zurück, um sich wieder neben Johannes zu setzen. Brenner hörte, wie er leise mit dem Jesuitenpater zu sprechen begann, konnte aber nicht verstehen, was er sagte.
»Sie wissen, daß er Sie töten wird, wenn das hier eine Falle ist«, sagte er leise.
Heidmann lächelte nur, und fast im gleichen Moment wurde auch Brenner selbst klar, wie lächerlich diese Worte klingen mußten. Heidmann gehörte nicht mehr zu den Menschen, die derTod erschrecken konnte.
»Entschuldigung«, sagte er.
»Schon gut. Man kann alte Gewohnheiten schlecht von einem Tag auf den anderen ablegen, nicht?« Er machte eine Kopfbewegung nach hinten. »Besser, Sie gehen jetzt auch nach hinten. Es kann nicht mehr weit sein.«
Brenner stand zögernd auf. Er hätte sich gerne noch weiter mit Heidmann unterhalten, war aber zugleich auch erleichtert, aus seiner Nähe zu entkommen. Es war ein unheimliches Gefühl, mit einem Toten zu sprechen. Aber vielleicht, überlegte er, sollte er sich besser daran gewöhnen. Was hatte Heidmann doch gleich gesagt: Vielleicht müssen wir unsere Begriffe von Tod und Leben neu definieren?
Der Helikopter landete fast auf die Minute pünktlich. Wenigstens vermutete Kenneally, daß es so war – seine Armbanduhr war stehengeblieben, und ob er seiner inneren Uhr noch vertrauen konnte, wußte er nicht. Sie behauptete jedenfalls, daß seit seinemTelefonat anderthalb Stunden vergangen waren, als der Hubschrauber auf dem Krankenhausdach zur Landung ansetzte.
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