»Etwas stimmt hier nicht«, sagte Sonja und sprach damit aus, was alle fühlten.
»Ja …« Daron hob den Kopf, schaute zum eisengrauen Himmel hoch, dann über den leicht aufgewühlten Fluss zur Zikkurat, die sich riesig und finster jenseits des dürren Grases erhob. Sein Blick traf Ban-Itos’. Der Greis nickte ernst.
Als sie sich dem Tor in der Mauer näherten, ritt Sonja voraus, um den Anruf des Postens auf der Brustwehr zu erwidern. »Wer da?« rief er. »Was ist das für eine Armee?«
»Ich bin die Rote Sonja von Hyrkanien«, rief sie zu ihm hoch. »Ich komme mit Daron, dem freien Schwertkämpfer, zurück. Wir brachen vor nicht ganz sechs Wochen von hier auf, um eine Armee zusammenzustellen – nun haben wir es geschafft, öffne das Tor, Soldat.«
Er blickte sie unentschlossen an. Einige Kameraden kamen den Wehrgang entlang zu ihm gerannt.
»öffnet das Tor, verdammt!« schrie Sonja ungeduldig, während Daron herbeiritt und neben ihr stehen blieb. »Wir müssen mit Bo-ugan sprechen.«
Einige der Männer stiegen die Stufen von der Mauer hinunter. Nach einer längeren Weile rief der Posten Sonja zu: »Ihr und Euer Begleiter dürft eintreten. Die Armee muss warten!«
»Was ist denn los mit Euch? Diese Armee ist für Bo-ugan!«
»Sie muss warten, Sonja von Hyrkanien.« Die Stimme des Wachmanns klang angespannt und streng.
Sonja schaute Daron an. Er wirkte beunruhigt. »Warte«, sagte er zu ihr.
Er ritt zu Ban-Itos und den Abteilungsführern ihrer Armee und sprach kurz zu ihnen. Dann kehrte er zu Sonja zurück. Ban-Itos schritt hinter ihm her.
»öffnet das Tor!« rief Daron nunmehr. »Wir drei werden eintreten.«
Die Soldaten auf der Mauer riefen hinunter, und langsam schwang das Tor auf. Sonja, Daron und Ban-Itos traten heran. Als sie durch das Tor schritten, sagte Sonja verärgert:
»Was ist los mit euch, ihr Zauderer? Unsere Männer sind müde und hungrig. Sie sind gekommen, um für Bo-ugan zu kämpfen …«
Sie hielt inne und schaute sich auf dem Platz vor dem Tor um. Er war fast leer. Keine Soldaten standen oder spazierten wie sonst herum, keine Bürger, ja nicht einmal Tiere waren zu sehen, lediglich ein paar Wachen, die müde und hungrig aussahen. Eine plötzliche Brise wirbelte Staub auf und spielte mit zerbrochenen Fensterläden in einer leeren Gasse.
»Was ist hier denn passiert?« fragte Daron einen der Soldaten.
»Tot. Alle tot …« Die Augen des Mannes lagen tief in den dunklen Höhlen. »Tot …«
»Durch Hexerei?« erkundigte sich Sonja.
Der Mann zuckte die Schulter. »Unsere Leute begannen zu sterben … Viele desertierten … Ganze Familien verließen das Dorf und fuhren flussabwärts. Tiere verrecken, Kinder sterben. Wir waren Narren – Narren …«
Sonja spürte den aufsteigenden Ärger. »Wie lange schon?«
»Wochen. Es begann vor Wochen – etwa vor einem Monat …« Er sah aus, als könnte er sich kaum auf den Beinen halten, und selbst das Sprechen bedeutete eine Anstrengung für ihn.
Sonja atmete tief ein. »Bring uns zu Bo-ugan. Wir müssen mit ihm sprechen. Sofort!«
»Er ist krank«, antwortete der Mann stumpf. »Bo-ugan ist krank. Auch er stirbt.«
»Verdammt!« brüllte Sonja ihn an. »Bist du ein Mann oder nicht? Hier ist eine Armee, die vor dem Tor wartet, um die Zikkurat zu stürmen und Thotas, den Zauberer, zu töten. Bring uns endlich zu Bo-ugan, Soldat!«
Unbeeindruckt von ihrem Grimm wandte der Wächter sich zu einem anderen Soldaten: »Führ sie zu Bo-ugan!« war alles, was er sagte.
Der zweite Mann, ebenfalls mager und müde und mit einem von Krankheit gezeichneten Gesicht, nickte Sonja, Daron und Ban-Itos zu, dann drehte er sich um und überquerte den Platz.
Sonja und Daron saßen ab und übergaben ihre Tiere den Soldaten vor dem Tor. Als sie das eigentliche Dorf betraten, flüsterte Ban-Itos Daron leise zu: »Das Böse ist entfesselt und hat mit der Vernichtung des Landes begonnen. Wir müssen uns beeilen. Vielleicht sind wir bereits zu spät gekommen …«
Bo-ugan war in seinem Haus, in der Ratskammer – aber er lag in der Rüstung auf einem Bett, das Gesicht fiebergerötet. Die Arme hingen schwach und schlaff an seinen Seiten, und Schweiß perlte auf seiner Stirn.
Es war dämmrig in der Kammer, die paar Öllampen brannten gedämpft und verbreiteten eine Grabesstimmung, was Sonja an kleine verfallene Tempel erinnerte – wie sie sie während ihres Umherstreifens gesehen hatte –, in denen alte Weiber den ganzen Tag zu tauben Göttern beteten oder um geliebte Verstorbene trauerten. Von Bo-ugans altem Stab waren nur noch wenige hier, so fehlte zum Beispiel der alte Agthor, aber Iatos war da.
Als sie die Ratskammer betraten, erhob sich Iatos und ging ihnen sichtlich erfreut entgegen. Er nahm Sonjas Hände in seine und drückte sie fest. Sonja erschrak insgeheim, als sie sah, dass auch Iatos krankhaft bleich und hager war.
»Was ist passiert?« erkundigte sie sich besorgt. »Ist Bo-ugan sehr krank?«
»Er liegt im Sterbe«, antwortete Iatos flüsternd. »Wir alle … sterben.« Er blickte ihr in die Augen, nickte Daron zu und verbeugte sich knapp vor Ban-Itos. Sonja machte Iatos und den greisen Zauberer miteinander bekannt und fragte erneut: »Was ist hier passiert? Ist das Thotas’ Werk?«
Iatos seufzte schwer. »Etwa ein bis zwei Wochen nach Eurem Aufbruch änderte sich die allgemeine Stimmung im Dorf. Die Männer wurden aufsässig und verlangten einen Sturmangriff auf die Stufenpyramide. Bo-ugan verlor die Befehlsgewalt über sie, und gegen seinen Willen zogen sie zum Angriff aus, mit Agthor als Führer. Nur wenige von uns blieben aus Pflichtgefühl gegenüber Bo-ugan hier. Die Belagerung dauerte lediglich drei Tage, dann lagen unsere Toten nur so vor der Zikkurat herum. Viele Zauberer der Roten Sonne hatten auch den Tod gefunden – behauptete man jedenfalls. Wie auch immer, die Verluste der unsrigen waren zu groß, und die Überlebenden zogen sich zurück. In jener Nacht erhob sich der Wind – ein glühender Wind! Er brachte den Kranken im Dorf den Tod. Keiner wagte sich mehr aus dem Lager. Schiffe, die Nachschub hätten bringen sollen, kamen nie an, aber Leichen trieben flussabwärts. Panik setzte ein, und viele flohen. Dann griff der Wahnsinn um sich, und unsere Leute fingen an, sich gegenseitig umzubringen. Dann packte auch noch das Fieber einen nach dem anderen. Bo-ugan war einer der letzten, den es befiel – sein Stolz und Grimm hielten ihn länger als die meisten aufrecht, doch nun ist er ebenfalls krank, und die Erkenntnis, dass er versagt hat, führt sein Ende noch schneller herbei, denn er wünscht sich nichts anderes mehr, als zu sterben und sich am Busen der Götter zu verbergen.«
Sonja blickte auf den alten Hetman. Er schien zu schlafen, doch nun hob er die Lider und bemühte sich, den Kopf zu heben.
»Stimmen …?« Seine eigene klang spröde und kraftlos.
Ein Soldat beugte sich über ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Die Rote Sonja, die Hyrkanierin, und Daron sind zurückgekehrt und haben einen Seher mitgebracht.«
»Sonja? Die Rote Sonja?« krächzte Bo-ugan und versuchte sich aufzusetzen.
Sonja trat neben sein Bett, während ihm ein Mann Kissen in den Rücken schob.
»Seid Ihr es, Rote Sonja?« wisperte der Hetman.
»Ich bin es, Lord Bo-ugan. Daron ist bei mir, und Ban-Itos – ein Zauberer, der weiß, wie wir Thotas besiegen können.«
»Besiegen – Thotas?«
»Und eine Armee«, versicherte sie ihm. »Lord Bo-ugan, wir haben eine Armee von über dreitausend Mann mitgebracht, die alle den Eid geleistet haben, den Tempel anzugreifen und Euch Thotas’ Schädel zu bringen!«
»Eine – Armee …«
Sonja brach es fast das Herz, als sie diesen ehemaligen Löwen von einem Mann zu solcher Hilflosigkeit verdammt sah. Welche Schändlichkeit hatte dies verursacht? Thotas würde dafür zu bezahlen haben! Der Zorn, der in ihr aufquoll, machte sich in einem plötzlichen Befehl Luft.
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