Sie zog sich in Bo-ugans Haus zurück und nahm die vier Führer mit, die sie persönlich aus den Söldnertruppen ausgewählt hatte. Mit ihnen sowie mit Iatos, Ban-Itos und Daron besprach sie anhand von Bo-ugans alter Karte die Taktik.
Es war bereits Mitternacht, als sie ihre Unterführer anwies, sich auszuruhen, ehe der Sonnenaufgang sie zur Schlacht rief. Sie selbst gönnte sich erst später Schlaf.
»Seid stark, Rote Sonja. Die Götter sind mit Euch«, ermutigte Ban-Itos sie.
»Wirklich?« Sie lächelte ihn müde an. »Nun … Ich nehme an, früher oder später werden die Götter sich wohl entschließen, mir beizustehen. Irgendwann dürften sie mir doch gewogen sein.«
Ban-Itos zog sich in ein Gemach im Haus zurück, wo er ein Bett gefunden hatte. Sonja blickte ihm nach und fragte sich, wer von ihnen morgen wohl fallen würde.
Iatos trat auf sie zu und nahm ihre Hände. Lächelnd erklärte er ihr. »Ich möchte mitkommen …«
»Nein«, lehnte sie ab. »Das geht nicht. Jemand muss hier bleiben. Du und deine Männer seid geschwächt und krank. Ihr habt euren Teil bereits beigetragen. Bitte, Iatos.«
Seine Augen verrieten, wie verletzt er war.
Sie sagte: »Ostor und seine Männer schlossen sich uns an. Sie könnten Unruhe stiften.«
»Ah – um so mehr Grund mitzukommen!«
»Um so mehr Grund hier zu bleiben, mein Freund – bitte!«
Er verstand und nickte, versuchte sogar ein Lächeln.
Sonja wandte sich an Daron: »Sollten wir vielleicht gleich morgen früh jemanden zu deines Vaters Berg schicken, um noch Gold und Silber zu holen – für den Fall, dass sich in der Zikkurat nicht so viele Reichtümer finden, wie wir den Truppen versprachen?«
»In den Höhlen wimmelt es von Fallen, von denen keineswegs alle durch meines Vaters Tod unschädlich wurden«, antwortete er. »Es ist sicher besser zu warten, bis wir wissen, wie viele Überlebende es gibt …«
Noch später, als alle außer Sonja und Daron sich zurückgezogen hatten, fragte sie ihn: »Wird es überhaupt Überlebende geben, Daron?«
»Ja«, antwortete er überzeugt. »Einige werden überleben.«
»Hast du die Kraft zu überleben – gegen das Böse zu kämpfen, falls Ban-Itos versagt?«
Er blickte sie fest an und lächelte grimmig. »Ich bin dazu bestimmt zu überleben, bis mein Schicksal erfüllt ist – genau wie du.«
Sie seufzte tief in der Dunkelheit der Nacht und flüsterte:
»Wer sind wir, Daron? Inmitten von all diesem hier, inmitten unseres Lebens – wer sind wir?«
Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus, und Sonja sah unbeständige Formen in den Schatten. Sie war plötzlich entsetzlich müde, zu erschöpft um darüber zu grübeln. Sie wollte überhaupt nicht mehr denken müssen. Aber sie spürte den Zwang dringender Fragen in sich, und da erst wurde ihr bewusst, dass Daron sprach.
»Wir sind ewig. Wenn du erst erkannt hast, dass wir lediglich Scheinbilder unseres eigenen Bewusstseins sind, wirst du auch die Art unseres ewigen Wesens erkannt haben. Alles, was geschah, und alles, was geschehen wird, ist nichts anderes als das, was wir träumen – Eigenbewußtsein ist ein Geschenk, das einem wieder fortgenommen werden kann. Aber was ist mit einem Geschenk, das wir uns selbst im flackernden Licht dieses Bewusstseins geben? Erkennt man erst die Macht und Kraft seiner Träume, erkennt man auch, dass dieses Scheinbild der Welt nichts weiter als ein Aspekt einer größeren und sich stetig wandelnden Wirklichkeit ist. Und der Glaube – der Geist – wird mächtiger sein als die mächtigste und übelste Zauberei.«
Sie war müde. »Worte«, brummte sie, weil sie nicht verstand oder nicht verstehen wollte.
»Die Wahrheit«, entgegnete er fest. »Die Wahrheit. Das weißt du, sonst hättest du nicht so lange überleben können!«
»Worte …«
»Die Wahrheit. Du wirst es eines Tages spüren, Sonja.«
Er erwähnte seine Liebe zu ihr nicht, und sie spürte, dass es so besser war. Auch sie erinnerte ihn nicht daran, dass sie ihn liebte. Wenn der morgige Tag erst vorbei war …
Jetzt jedenfalls war es spät. Sie waren beide erschöpft, und in wenigen Stunden mussten sie bereits in den Kampf gegen die Ausgeburten der Hölle ziehen.
9
Die Schlacht um die Stufenpyramide
Ein Schrei zerriss das Morgengrauen.
Sonja, der nur ein paar kurze Stunden Schlaf vergönnt gewesen waren, befand sich in diesem Moment auf dem Hauptplatz. Sofort riefen die kaum halbwachen Posten auf der Mauer laut vor Überraschung und deuteten über den Fluss. Sonja horchte auf, rannte über den Platz und raste die Stufen zum Mauerwehrgang hoch. Frühaufsteher und jene, die der Schrei aus dem Schlaf gerissen hatte, eilten aus den Häusern und sammelten sich auf dem Platz.
»Was war das?«
»Klang wie aus der Ferne, aber zu laut, als dass es ein Mensch hätte gewesen sein können!«
»Verdammt! Was führen diese Hundesöhne jetzt im Schild?«
Ein zweiter Schrei zerschnitt die Luft, dann ein dritter, und nun war deutlich zu erkennen, dass er sehr wohl menschlich war, obwohl ungemein verstärkt. Von der Brustwehr aus war der Ursprung schnell erkennbar: eine graurote Wolke, die aus der Richtung des Tempels auf das Dorf zubrauste. Sie schrillte in unverkennbaren Qualen.
Sie, oder vielmehr der Schatten in ihr. Denn als sie näher kam – unmöglich schnell für eine echte Wolke –, konnten die Beobachter in ihrer Mitte einen sich windenden menschenförmigen Schatten sehen.
»Erlik und Tarim!« fluchte Sonja. »Das Ding hat einen Menschen eingefangen!«
Sie wirbelte herum, als sie jemanden herbeirennen hörte, und ihre Hand zuckte in Richtung Schwertgriff. Sie entspannte sich erst, als sie sah, dass es Daron war.
Er achtete jedoch überhaupt nicht auf sie, sondern starrte unentwegt auf die sich nähernde Wolke.
Sie war verhältnismäßig groß und warf ihren Schatten im Vorbeirasen über die grauen Wildkräuter der Wiesen und auf das kalte Wasser des Flusses und auf die krummen Planken der Brücke. Aller Augen ruhten auf ihr. Sie sah aus wie aus Meeresgischt, zu schwer, um von der Luft hochgehalten zu werden. Der Schatten in ihr war gewiss der eines menschlichen Wesens, denn ohne Zweifel war der Schrei, der davon ausging, der eines Mannes, durch Zauber ins Ungeheure verstärkt.
Sonja und Daron drehten beide die Köpfe und verrenkten sich fast den Hals, als die Wolke langsam über sie hinwegtrieb und in der Luft über dem Hauptplatz des Dorfes anhielt. Inzwischen hatten sich Hunderte hier zusammengefunden, und als die Wolke herbeisegelte, wichen sie ihr furchtsam aus.
Die Gestalt in ihr, die höher schwebte als das höchste Haus, war nun deutlich zu erkennen. Es war ein junger bärtiger Mann in Rüstung. Er drehte sich hilflos in dem wirbelnden rötlichen Schaum wie der Braten eines Jägers auf dem Spieß. »Helft mir!« schrie er gellend und fuchtelte heftig mit den Armen in dem roten Dunst.
Dann entrang sich ihm ein lautes Wimmern.
Bei diesem Laut drehte sich Sonja der Magen um. Der rotgraue Schaum der Wolke färbte sich nun scharlachrot. Die Beobachter keuchten entsetzt, als aus der Wolke Blut auf den Boden tropfte. Und plötzlich spritzte Blut in alle Richtungen: auf die Erde, die Ziegel der Hauswände, auf das Holz von Türen und Fensterläden, und auf die Dächer.
»Helft – mir!«
Sonjas Hand krampfte sich um den Schwertgriff, während sie nur untätig hochsehen konnte. »Gib mir Schwingen!« flüsterte sie verzweifelt zu keinem Gott, keinem Dämon, keiner Macht ihres Wissens. »Gib mir Schwingen und lass mich Vergeltung üben …«
Plötzlich löste die Wolke sich auf wie Dampf im Wind. Das beklagenswerte Opfer ächzte ein letztes Mal, dann schlug es mit hörbarem Bersten seiner Knochen auf dem Platz auf.
Sonja eilte die Stufen hinunter, bahnte sich einen Weg durch die Menge und blieb über die Leiche gebeugt stehen, die verkrümmt mit verrenkten Gliedern lag, von der Blut sickerte und Lachen bildete. Als Sonja Blicke auf sich spürte, schaute sie hoch. Ihr gegenüber standen Ban-Itos und der vor Wut und Schwäche zitternde Iatos, der sich auf einen langen Stock stützte.
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