Und jetzt will ich Euch ein Angebot machen. Ich nehme meinen Ring und schleiche heute mittag hinunter. Denn wenn überhaupt, dann macht Smaug heute mittag ein Nickerchen. Und dann werde ich ja sehen, was mit ihm los ist. Vielleicht kommt etwas dabei heraus. Jeder Wurm hat seine weiche Stelle, pflegte mein Vater zu sagen, obgleich ich glaube, daß sich dieser Spruch nicht auf persönliche Erfahrung gründete.« Natürlich nahmen die Zwerge das Angebot sehr gern an.
Lange schon war der kleine Bilbo in ihrer Hochachtung gestiegen, ja, jetzt war er der wahre Führer ihrer Unternehmung. Er hatte eigene Pläne und eigene Gedanken.
Als es Mittag wurde, war Bilbo bereit zu einer neuen Expedition hinab in den Berg. Gewiß, gern tat er es nicht, aber da er mehr oder weniger wußte, was auf ihn wartete, war es nicht mehr ganz so schlimm. Hätte er mehr von Drachen und ihrer Verschlagenheit gewußt, so wäre er furchtsamer gewesen und hätte kaum gehofft, daß er Smaug beim Mittagsschlaf antreffen könnte.
Die Sonne schien, als er losging, aber im Gang herrschte finstere Nacht. Das Licht der fast geschlossenen Tür verblaßte rasch, als Bilbo hinunterstieg. So lautlos waren seine Bewegungen, daß ein sanfter Windhauch kaum weniger Geräusch verursachen konnte. Und deshalb war er ganz schön stolz auf sich, als er sich der unteren Tür näherte. Nur das allerschwächste Glimmen war zu sehen.
Der alte Smaug ist abgekämpft und eingeschlafen, dachte er. Er kann mich nicht sehen, und gehört dürfte er mich auch nicht haben. Nur Mut, Bilbo! Aber entweder hatte er vergessen, oder er hatte nie davon gehört, daß Drachen eine vorzügliche Witterung besitzen. Auch ist es seltsam, aber sie können im Schlaf ein halbes Auge zur Wache offenhalten, falls sie Verdacht hegen.
Smaug sah jedenfalls fest eingeschlafen aus, nahezu tot und dunkel. Kaum einen Schnaufer, der mehr war als ein Hauch unsichtbaren Dampfes, gab er von sich, als Bilbo abermals durch. den Eingang spähte. Der Hobbit wollte gerade in die Halle treten, als er plötzlich einen dünnen, durchdringend roten Strahl unter dem hängenden Lid von Smaugs linkem Auge gewahrte. Smaug tat nur so, als ob er schliefe! Er bewachte den Tunneleingang! Hastig flüchtete Bilbo zurück und pries seinen Ring.
Dann sprach Smaug: »Dieb! Ich rieche dich, ich spüre deinen Luftzug. Ich höre deinen Atem. Komm!
Bediene dich, hier ist genug!«
Aber so unerfahren war Bilbo nicht in der Drachenkunde, daß er diese Einladung für bare Münze hielt.
Und wenn Smaug hoffte, ihn auf diese Weise zum Näherkommen zu bewegen, so wurde er enttäuscht. »Nein, vielen Dank, o Smaug, du Fürchterlicher!« erwiderte er. »Ich wollte keine Geschenke von dir haben. Ich wollte dich nur anschauen und sehen, ob du wirklich so groß bist, wie die Geschichten erzählen. Ich glaubte nämlich nicht daran.«
»Glaubst du es jetzt?« fragte der Drache und war ein wenig geschmeichelt, obgleich er kein einziges Wort Bilbos für wahr hielt.
»In der Tat, Lieder und Sagen kommen überhaupt nicht an die Wirklichkeit heran, o Smaug, du größtes und schrecklichstes aller Unglücke«, erwiderte Bilbo.
»Für einen Dieb und Lügner hast du hübsche Umgangsformen«, sagte der Drache. »Mein Name scheint dir wohlvertraut zu sein. Aber ich kann mich nicht erinnern, daß ich dich zuvor schon einmal gerochen hätte. Wer bist du, und woher kommst du, wenn ich fragen darf?«
»Du darfst gern fragen! Ich komme unten vom Berg und unter den Bergen her. Und über die Berge ging es auch. Und durch die Luft. Ich bin derjenige, der unsichtbar kommt.«
»Das glaube ich gern«, sagte Smaug. »Aber das ist gewiß nicht dein gewöhnlicher Name.«
»Ich bin der Spurfinder, der Netzschlitzer, die stechende Fliege. Ich wurde wegen der Glückszahl genommen.«
»Wunderschöne Titel«, hohnlächelte der Drache. »Aber Glückszahlen treffen nicht immer.«
»Ich bin derjenige, der seine Freunde lebendig einsargt, sie ertränkt und dann doch wieder lebendig aus dem Wasser zieht. Ich kam aus dem Ende eines Beutels, aber über mich kam kein Beutel.«
»Das klingt nicht sehr glaubwürdig«, schnaufte Smaug.
»Ich bin der Freund von Bären und der Gast von Adlern. Ich bin ein Ringfinder und Glücksträger. Und ein Faßreiter bin ich auch«, fuhr Bilbo fort, denn er hatte Spaß an der Rätselei gefunden.
»Das ist schon besser«, sagte Smaug. »Aber laß deine Phantasie nicht mit dir durchgehen!«
Dies ist sicher die richtige Art, mit Drachen zu reden, wenn man seinen eigentlichen Namen nicht verraten will (was sehr klug ist) und durch glattes Verweigern sie nicht schrecklich erzürnen möchte (was sehr unklug wäre). Kein Drache kann dem Zauber einer Rätselsprache widerstehen. Es macht ihm auch nichts aus, wenn er mit den Versuchen, sie zu lösen, Zeit vergeudet. Es gab eine Menge Nüsse für Smaug zu knacken, und Smaug verstand kein Wort (obgleich ihr wahrscheinlich mehr versteht, denn ihr kennt ja die Abenteuer, auf die Bilbo mit diesen Rätseln anspielte). Aber Smaug glaubte, er verstünde genug, und er lachte tief in sein verschlagenes Innere hinein.
Ich dachte es mir schon heute nacht, sagte er höhnisch zu sich selbst. Seemenschen, irgendein Plan dieser elenden, mit Fässern handelnden Seemenschen, oder ich will eine Eidechse sein. Ich bin seit langer, langer Zeit nicht mehr da unten gewesen. Aber das werde ich bald ändern.
»Sehr gut, o Faßreiter«, sagte er laut. »Vielleicht war Faß der Name deines Ponys. Vielleicht auch nicht, obgleich es fett genug war. Du kannst meinetwegen unsichtbar sein – aber gegangen bist du nicht den ganzen Weg. Laß dir erzählen, daß ich heute nacht sechs Ponys gefressen habe. Und die anderen werde ich auch bald fangen und fressen. Als Anerkennung für dieses vorzügliche Frühstück will ich dir zu deinem Besten einen guten Rat geben: Laß dich, soweit du es vermeiden kannst, nicht mit Zwergen ein!«
»Zwerge?« fragte Bilbo und spielte den überraschten.
»Mach mir nichts vor!« antwortete Smaug. »Ich kenne den Geruch (und den Geschmack) von Zwergen. Nichts kenne ich besser als gerade den. Erzähl mir nicht, daß ich ein von Zwergen gerittenes Pony verspeise und es nicht merke! Du wirst ein übles Ende nehmen, wenn du dich mit solchen Freunden abgibst, Dieb Faßreiter. Mir macht es nichts aus, du kannst umkehren und es ihnen gern erzählen.« Aber er sagte Bilbo nicht, daß ihm da ein weiterer Geruch in der Nase stak, den er ganz und gar nicht herausfinden konnte, den Geruch des Hobbits nämlich. Mit dem hatte er keine Erfahrung, und das verwirrte ihn mächtig.
»Vermutlich bekamst du einen anständigen Lohn für den Pokal, letzte Nacht?« fuhr er fort. »Sag’ schon, stimmt es? überhaupt nichts! Das sieht ihnen ähnlich. Und wetten, daß sie draußen herumliegen, während du die gefährliche Arbeit verrichten darfst! Du darfst für sie holen, was du ergattern kannst, wenn ich nicht aufpasse – und das für die da draußen? Und du sollst einen anständigen Anteil erhalten? Glaub es nicht. Wenn du lebend davonkommst, kannst du froh sein.«
Bilbo wurde es allmählich ungemütlich. Jedesmal, wenn Smaugs umherschweifendes Auge, das im Schatten nach ihm suchte, über ihn hinwegblitzte, zitterte er. Ein unerklärliches Verlangen ergriff ihn, herauszukommen, sich zu zeigen und Smaug die Wahrheit zu sagen. Er war in der Tat in ernster Gefahr, dem Drachenzauber zu erliegen. Aber er nahm seinen Mut abermals zusammen und sagte: »Du weißt nicht alles, o Smaug, du Mächtiger! Nicht allein das Gold brachte uns hierher.«
»Ha! Ho! Du gibst das ›uns‹ zu!« lachte Smaug. »Warum sagst du nicht gleich ›uns vierzehn‹ und gibst zu, was ich sage, Mister Glückszahl? Ich freue mich zu hören, daß ihr außer dem Gold noch andere Geschäfte hier zu erledigen habt. In diesem Fall wäre es vielleicht nützlich, hier nicht allzuviel Zeit zu verschwenden! Ich weiß nicht, ob es dir klar geworden ist? Selbst wenn du das Gold Stück um Stück stehlen könntest, was vielleicht hundert Jahre dauern würde –, dann kannst du es gewiß nicht weit schleppen. Was willst du im Gebirge damit? Was willst du im Wald damit? Donner und Blitz! Hast du niemals an die Beute gedacht? Den vierzehnten Teil, vermute ich – so oder so ähnlich, das war doch die Abmachung, nicht wahr? Aber wie steht es mit der Ablieferung, wie mit dem Transport? Wie mit bewaffneten Wachen und Zoll?« Laut lachte Smaug. Er hatte ein hinterhältiges, verschlagenes Herz. Auch wußte er, daß seine Vermutungen nicht weit von der Wirklichkeit entfernt waren. Aber er glaubte, daß die Menschen vom See mit im Spiel waren und daß der größte Teil des Raubes in jener Stadt am Ufer bleiben sollte, die in seinen jungen Tagen einmal Esgaroth geheißen hatte.
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