Nachdem er seine Wut ausgelassen hatte, fühlte er sich wohler, und in seinem Herzen dachte er, daß er von dieser Seite her nie wieder würde gestört werden. Indessen hatte er noch eine andere Rechnung zu begleichen. »Faßreiter!« schnaufte er. »Euer Fuß kam von der Wasserseite her, Ihr kamt zweifellos den Strom herauf Euer Geruch ist mir rätselhaft, aber wenn Ihr schon nicht einer von diesen Menschen am See seid, so hattet Ihr doch ihre Hilfe. Jetzt werde ich ihnen ins Gedächtnis rufen, wer der wahre König unter dem Berg ist!«
Er erhob sich in einer Wolke von Feuer und flog hinweg, südwärts, zum Eiligen Wasser.
Unterdessen saßen die Zwerge in der Finsternis. Tiefe Stille lastete auf ihnen. Sie aßen wenig und sprachen wenig. Sie konnten die Zeit nicht messen und wagten kaum, sich zu rühren, denn das Gewisper ihrer Stimmen klang rumorend im Tunnel wider. Schliefen sie ein, so wachten sie wieder zu Finsternis und lautloser Stille auf Nach unzähligen Tagen des Wartens (so schien es ihnen), als sie fast erstickt und betäubt vom Luftmangel waren, konnten sie es nicht länger ertragen. Selbst der Krach des zurückkehrenden Drachen wäre ihnen willkommen gewesen. Sie fürchteten, daß hinter dieser Stille eine seiner verschlagenen Teufeleien steckte. Aber sie konnten nicht auf ewig hier sitzen bleiben.
»Wir wollen versuchen«, sagte Thorin, »ob die Tür zu öffnen ist. Ich muß Wind auf meinem Gesicht spüren, sonst sterbe ich. Lieber von Smaug im Freien zerschmettert werden, als hier drinnen jämmerlich ersticken!« Einige Zwerge standen auf und krochen dorthin zurück, wo die Tür einmal gewesen war. Aber sie fanden, daß das obere Ende des Stollens zerstört und von herabgebrochenem Fels versperrt war. Weder Schlüssel noch Zauber, die diese Tür einmal bewegt hatten, würden sie je wieder öffnen.
»Wir sitzen in der Falle«, stöhnten sie. »Dies ist das Ende. Hier werden wir sterben.«
Aber gerade jetzt, da die Zwerge am verzweifeltsten waren, fühlte Bilbo eine seltsame Erleichterung in seinem Herzen, als ob ein schwerer Alpdruck von ihm gewichen sei. »Kommt!« sagte er. »Solange noch Leben da ist, ist auch Hoffnung da, wie mein Vater zu sagen pflegte. Und aller guten Dinge sind drei.
Ich gehe noch einmal in den Stollen hinunter. Zweimal war ich dort, als ich wußte, daß ein Drache am anderen Ende lauerte. Und jetzt wird der dritte Versuch gewagt, da vermutlich keiner dort unten ist.
Jedenfalls: Der einzige Weg hinaus führt hinunter. Und diesmal, meine ich, wäre es am besten für euch, wenn ihr alle mich begleiten würdet.«
In ihrer Verzweiflung stimmten sie zu, und Thorin war der erste, der an Bilbos Seite hinabging.
»Seid bitte wirklich vorsichtig«, wisperte der Hobbit, »und so still, wie ihr nur sein könnt! Kann sein, daß kein Smaug dort unten liegt, aber es kann auch sein, daß er doch dort liegt. Wir wollen keine überflüssigen Gefahren eingehen!«
Tief, tief hinab schlichen sie. Natürlich konnten sich die Zwerge, was Lautlosigkeit angeht, nicht mit dem Hobbit vergleichen. Sie schnauften und scharrten, und der Widerhall vervielfältigte die Geräusche auf schreckliche Weise. Aber wenn auch Bilbo dann und wann aus Furcht stehenblieb und lauschte, nichts rührte sich dort unten. Kurz vor dem Stollenende – so gut er das abschätzen konnte – streifte Bilbo den Ring an seinen Finger und ging voraus. Aber es war gar nicht nötig: Die Finsternis war vollkommen. Alle waren unsichtbar, mit Ring oder ohne Ring. Die Finsternis war in der Tat so schwarz, daß, als der Hobbit unerwartet den Stollenausgang erreichte, er mit den Händen in Luft griff, vorwärts stolperte und längelang hinab in die Halle rollte!
Da lag er nun mit dem Gesicht auf dem Boden und wagte nicht, aufzustehen oder auch nur zu atmen.
Aber nichts rührte sich. Kein Lichtschimmer war zu sehen. Und doch schien ihm, als er schließlich den Kopf hob, als ob dort etwas Bleiches und Weißes schimmerte, über ihm, weit fort in der Dunkelheit.
Sicherlich war es kein Drachenfeuer, obgleich der Gestank des Lindwurms noch schwer in der Halle stand und Bilbo den Drachendunst auf der Zunge schmeckte.
Schließlich konnte es Mister Beutlin nicht länger ertragen.
»Verdammter Smaug, elender Wurm!« quietschte er laut.
»Hört auf, Verstecken zu spielen! Gebt mir Licht, und dann freßt mich, wenn Ihr mich fangen könnt!«
Schwach lief das Echo durch die unsichtbare Halle. Aber eine Antwort erhielt Bilbo nicht. Er stand auf und wußte nicht, in welche Richtung er gehen sollte.
»Jetzt möchte ich aber doch wissen, was in aller Welt Smaug treibt«, sagte er. »Ich glaube, Smaug ist heute nicht zu Hause (heute morgen, heute nacht, oder was für eine Tageszeit es immer ist). Wenn Oin und Gloin ihre Zunderbüchsen nicht verloren haben, könnten wir vielleicht ein bißchen Licht machen und uns umschauen, ehe sich das Glück wendet. Licht!« schrie er. »Kann jemand Licht machen?«
Die Zwerge hatten sich natürlich furchtbar erschrocken, als Bilbo mit einem Bums über die Stufe hinab in die Halle gefallen war, und sie saßen eng aneinandergedrückt am selben Fleck, wo er sie verlassen hatte.
»Pst, pst!« zischten sie, als sie seine Stimme hörten. Und obgleich ihm dies half, festzustellen, wo sie waren, blieb es das einzige, was er aus ihnen herausbringen konnte. Aber schließlich, als er auf den Boden stampfte und wütend mit seiner schrillen Stimme »Licht« schrie, gab Thorin nach. Oin und Gloin wurden zurück zum Gepäck an den Anfang des Stollens geschickt.
Nach einer Weile zeigte ein flackernder Schein ihre Rückkehr an. Oin hatte einen kleinen Kienspan in der Hand, und Gloin trug ein ganzes Bündel unter dem Arm. Rasch trottete Bilbo zur Schwelle zurück und nahm die Fackel in Empfang. Doch konnte er die Zwerge nicht dazu überreden, auch die anderen Kienspäne anzuzünden oder zu ihm herunterzukommen. Wie Thorin vorsichtig auseinandersetzte, war Mister Beutlin offiziell noch immer ihr Meisterdieb und Kundschafter. Wenn er es für richtig hielt, ein Licht zu riskieren, so war das seine Sache. Sie würden droben im Stollen auf seinen Bericht warten.
Die Zwerge sahen, wie der kleine, dunkle Umriß des Hobbits, der sein spärliches Licht hoch über sich hielt, in die Halle ging. Dann und wann, als er noch nahe genug war, konnten sie einen Schimmer erhaschen oder ein leises Klingen erlauschen, wenn er über irgend etwas Goldenes stolperte. Das Licht wurde immer kleiner, während er tiefer in die riesige Halle wanderte. Dann begann es aufzusteigen und in der Luft zu tanzen. Bilbo war dabei, den großen Schatzberg zu erklimmen. Bald stand er auf der Spitze, und noch immer ging er weiter. Jetzt sahen die Zwerge, wie er anhielt und sich kurz niederbeugte aber den Grund kannten sie nicht.
Es war der Arkenjuwel, das Herz des Berges, Bilbo erriet es aus Thorins Beschreibung. Wirklich, zwei solche Edelsteine konnte es nicht geben, selbst in einem so wunderbaren Schatz nicht, nicht in der ganzen Welt. Die ganze Zeit schon hatte dieser weiße Schein vor Bilbo geleuchtet und seine Schritte zu sich hingelenkt. Langsam wurde er zu einer kleinen, bleich leuchtenden Kugel. Und jetzt, da er näher kam, brach sich das schwankende Licht seiner Fackel in dieser Kugel, die in mannigfaltigen Farben aufblitzend funkelte. Endlich blickte Bilbo auf sie hinab, und es verschlug ihm den Atem: Vor seinen Füßen leuchtete der große Edelstein im eigenen inneren Licht. Und doch nahm der Juwel, der von den Zwergen, die ihn vor langer, langer Zeit aus dem Herzen des Berges ausgegraben, geschnitten und geschliffen hatten, jeden Strahl auf, der auf ihn fiel, und verwandelte ihn in zehntausend Funken weißen Glanzes, durchsetzt mit regenbogenfarbigem Glitzern.
Plötzlich streckte Bilbo, von seinem Zauber angezogen, den Arm nach ihm aus. Seine kleine Hand konnte ihn nicht umschließen. Es war ein großer und schwerer Juwel. Aber er hob ihn auf, schloß die Augen und versenkte ihn in seine tiefste Tasche.
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