Nun bin ich in der Tat ein Dieb, dachte er. Zwar, irgendwann muß ich es den Zwergen einmal erzählen – aber das hat ja Zeit. Sie haben doch selbst gesagt, daß ich mir meinen Anteil heraussuchen sollte.
Nun, wenn ich die Wahl hätte, würde ich dies hier nehmen und ihnen den ganzen Rest überlassen!
Dennoch hatte er das unangenehme Gefühl, daß sich das Heraussuchen durchaus nicht auch auf diesen wunderbaren Juwel erstrecken sollte und daß er damit noch Ärger haben würde.
Bilbo ging weiter. Er stieg die andere Seite des großen Schatzberges hinab, und der Schimmer seiner Fackel verschwand aus dem Gesichtskreis der wartenden Zwerge. Aber bald sahen sie ihn weit in der Ferne wieder. Bilbo wanderte zur anderen Seite der Halle hinüber.
Er ging, bis er zu den großen Toren auf der anderen Seite kam, und dort erfrischte ihn ein Luftzug, der jedoch um ein Haar sein Licht ausgeblasen hätte. Zaghaft spähte er durch die Tore und erblickte große Gänge und den undeutlichen Anfang breiter Treppen, die hinauf in die Finsternis führten. Und noch immer hatte er nichts von Smaug gesehen oder gehört. Gerade wollte er umkehren, als ein schwarzer Schatten auf ihn herabschoß und sein Gesicht streifte. Bilbo schrie auf und fuhr zurück, strauchelte und schlug hin. Die Fackel fiel ihm aus der Hand und erlosch.
Bloß eine Fledermaus, hoffe und vermute ich! dachte er jämmerlich. Aber was mache ich jetzt? Wo ist Osten, Süden, Norden und Westen?
»Thorin, Balin, Oin; Gloin, Fili, Kili!« schrie er, so laut er nur konnte – in der weiten, dichten Schwärze war es nur ein schwaches kleines Geräusch. »Hilfe, das Licht ist ausgegangen! Einer soll herkommen und mir helfen!« Zur Zeit hatte ihn all sein Mut verlassen.
Schwach in der Ferne hörten die Zwerge seine Schreie. Das einzige Wort, das sie verstanden, war »Hilfe! «
»Was im Himmel, auf der Erde oder unter ihr ist passiert?« sagte Thorin. »Um den Drachen kann es kaum gehen, sonst würde er jetzt nicht weiterschreien.«
Sie warteten einen Augenblick oder zwei, und noch immer konnte man kein Drachenrumoren hören.
Nichts, kein Geräusch, nur Bilbos ferne Stimme. »Kommt, einer von euch, holt ein anderes Licht!« befahl Thorin. »Es scheint, wir müssen unserem Meisterdieb helfen.«
»Ja, jetzt ist die Reihe an uns«, sagte Balin, »und ich bin gern bereit, zu gehen. Außerdem ist im Augenblick sicher keine Gefahr zu befürchten.«
Gloin entzündete einige Fackeln, und dann krochen sie alle hinaus, einer nach dem andern, und eilten, so schnell es ging, an der Wand der Halle entlang. Es dauerte auch nicht lange, bis sie Bilbo trafen, der ihnen entgegenkam. Seine Lebensgeister waren wieder erwacht, sobald er das Blinken ihrer Lichter entdeckte.
»Bloß eine Fledermaus und eine verlöschte Fackel, nichts von Belang!« antwortete er auf ihre Fragen.
Obgleich sie doch sehr erleichtert waren, hätten sie ihn am liebsten ausgeschimpft, weil er sie wegen einer Nichtigkeit in Schrecken versetzt hatte. Aber was sie erst gesagt hätten, wenn er ihnen in diesem Augenblick vom Arkenjuwel berichtet hätte, das weiß der liebe Himmel. Die flüchtigen Blicke, die sie auf den Schatz werfen konnten, hatten das Feuer in ihren Zwergenherzen neu entfacht. Und wenn das Herz eines Zwerges, selbst des ehrwürdigsten und ordentlichsten, durch Gold und Edelsteine einmal entflammt ist, so wird es kühn und kann sogar grimmig werden.
Man brauchte die Zwerge nicht länger zu drängen. Da sie die Chance einmal hatten, brannten sie richtig darauf, die Halle auszukundschaften. Und für den Augenblick waren sie bereit, zu glauben, daß Smaug nicht zu Hause war. Jeder nahm eine brennende Fackel, und dann irrten ihre erstaunten Blicke erst nach der einen Seite und dann nach der anderen. Sie vergaßen ihre Angst, vergaßen jegliche Vorsicht. Laut sprachen sie, riefen einander zu, hoben die alten Schätze aus dem großen Durcheinander auf oder hingen sie von der Wand ab, hielten sie ins Licht und streichelten sie zärtlich.
Fili und Kili waren besonders guter Laune, denn sie fanden noch zahlreiche goldene Harfen, die mit Silbersaiten bespannt waren. Sie nahmen sie von der Wand und spielten darauf. Und da es Zauberharfen waren (und von dem Drachen, der für Musik nur ein sehr geringes Interesse hatte, nicht berührt worden waren), waren sie noch immer richtig gestimmt. Eine wunderbare Melodie, die hier schon lange nicht mehr erklungen war, erfüllte die dunkle Halle. Aber die meisten Zwerge waren praktischer veranlagt: Sie sammelten Edelsteine, stopften sie in ihre Taschen, und was sie nicht tragen konnten, ließen sie mit einem Seufzer wieder aus der Hand fallen. Thorin war dabei nicht der letzte. Aber unentwegt suchte er an allen Enden etwas, das er nicht finden konnte. Es war der Arkenjuwel; doch vorerst sprach er zu niemandem darüber.
Die Zwerge nahmen jetzt Panzer und Waffen von den Wänden und rüsteten sich. Thorin sah königlich aus in seinem vergoldeten Kettenhemd. Im Gürtel, der mit scharlachfarbenen Edelsteinen besetzt war, trug er eine Axt mit silbernem Stiel.
»Mister Beutlin«, rief er, »hier ist die erste Rate Eurer Belohnung. Werft Euren alten Rock fort und zieht diesen hier an!«
Damit legte er Bilbo ein kleines Kettenhemd an, das vor langer Zeit für einen jungen Elbenprinzen angefertigt worden war. Es bestand aus versilbertem Stahl. Dazu gehörte ein Gürtel, der mit Perlen und Kristallen bestickt war. Ein leichter Lederhelm, verstärkt durch Stahlreifen, reich geprägt und am Rand mit weißen Edelsteinen besetzt, wurde dem Hobbit auf den Kopf gestülpt.
Ich fühle mich außerordentlich, dachte Bilbo. Aber komisch sieht es bestimmt aus. Wie würden sie zu Hause über mich lachen! Trotzdem, es wäre schön, wenn ich jetzt einen Spiegel zur Hand hätte.
Wie dem auch sei, Mister Beutlin behielt einen klaren Kopf und ließ sich nicht wie die Zwerge vom Gold verzaubern. Lange ehe seine Gefährten aufhörten, die Schätze zu untersuchen, war er es leid geworden. Er setzte sich auf den Boden, unruhig, was diese Herumwühlerei für ein Ende nehmen sollte. Für einen kühlen Trunk aus Beorns hölzernen Humpen würde ich ein gut Teil dieser kostbaren Kelche hingeben! dachte er.
»Thorin!« rief Bilbo laut. »Was jetzt? Wir sind zwar bewaffnet, was vermag aber eine Rüstung gegen Smaug, den Schrecklichen? Dieser Schatz ist noch lange nicht zurückgewonnen. Wir sollten uns jetzt nicht um den Schatz kümmern, sondern um einen Fluchtweg. Wir haben unser Glück schon zu lange auf die Probe gestellt!«
»Ihr sprecht die Wahrheit!« antwortete Thorin und kam wieder zu Verstand. »Wir wollen gehen! Ich werde Euch führen. Nicht in tausend Jahren werde ich die Wege in diesem Palast vergessen.« Dann rief er die anderen. Sie sammelten sich, und während sie ihre Fackeln hoch über den Kopf hielten, durchschritten sie die offenen Tore. Aber sie schauten noch oft genug mit sehnsüchtigen Blicken zurück.
Ihre glitzernden Rüstungen hatten sie mit ihren alten Mänteln bedeckt, ihre bunten Helme mit den zerlumpten Kapuzen. So folgten sie Thorin, eine Kette von kleinen Lichtern in der Finsternis, hielten oft vor Furcht an und lauschten, ob nicht ein Geräusch die Rückkehr des Drachen anzeigte.
Obgleich aller Schmuck längst vermodert und zerstört war, besudelt und durch das Kommen und Gehen des Untiers verbrannt, kannte Thorin doch jeden Durchgang und jede Wegkehre. Sie stiegen lange Treppen hinauf, wandten sich und gingen weite, widerhallende Gänge hinab, wandten sich wieder und erstiegen andere Treppen und immer neue Treppen. Sie waren glatt und sauber in den Fels gehauen, breit und angenehm zu gehen. Immer höher hinauf stiegen die Zwerge und stießen auf kein Zeichen von Lebendigem – ausgenommen flüchtige Schatten, die beim Nahen ihrer im Luftzug flackernden Fackeln davonschwirrten.
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