»Das nutzt nichts, wenn man beobachtet hat, wie wir hergekommen sind«, bemerkte Dori, der immer hinauf zum Berggipfel schielte, als ob er Smaug dort oben wie einen Hahn auf der Kirchturmspitze vermutete.
»Wir müssen unser Glück versuchen«, entgegnete Thorin.
»Heute können wir sowieso nicht weiter.«
»Hört! Hört!« schrie Bilbo und warf sich auf den Boden. In der Wachhalle gab es Platz für hundert.
Dahinter lag noch eine andere, kleinere Kammer (weiter fort von der kalten Außenseite). Sie war völlig verlassen. Selbst wilde Tiere hatten sie, seit Smaug gekommen war, nicht mehr benutzt. Hier setzten sie ihr Gepäck ab. Einige warfen sich hin und schliefen sogleich ein, aber die andern kauerten sich in der Nähe der Außentür nieder und berieten ihre Pläne. In all ihren Gesprächen kamen sie jedoch immer wieder auf die eine Frage zurück: Wo war Smaug? Sie schauten nach Westen, und dort war kein Zeichen von ihm zu entdecken; im Osten keines, im Süden keines – aber im Süden sammelte sich eine große Schar Vögel.
Die Zwerge starrten auf sie hin und wunderten sich. Aber als die ersten kalten Sterne heraufzogen, hatten sie den Grund für diese Versammlung noch immer nicht verstanden.
Wenn ihr, wie die Zwerge, etwas über Smaug erfahren wollt, so müssen wir zu jenem Abend zurückkehren, als er die Tür zerschmetterte und in rasender Wut davonflog.
Die meisten Menschen der Seestadt Esgaroth waren in ihren Häusern, denn der Wind wehte kalt aus Osten, und sie froren. Aber einige wenige gingen über die Kais und beobachteten, wie sie es gern taten, auf den glatten Flächen des Sees das Licht der Sterne, wenn sie am Himmel aufleuchteten. Von der Stadt aus verdeckte die Silhouette jener niedrigen Vorberge am anderen Ende des Sees, durch die das Eilige Wasser sich von Norden her einen Weg bahnte, nahezu den ganzen Einsamen Berg. Nur den hohen Gipfel konnte man bei klarem Wetter erkennen. Selten nur schauten die Menschen dorthin, denn dieser Gipfel war selbst im Morgenlicht ein unheimlicher Anblick. Nun aber war er in der Finsternis der Nacht gänzlich verschwunden.
Plötzlich leuchtete der Gipfel dennoch auf Ein flüchtiges Glühen überzog ihn und erlosch wieder.
»Schaut«, sagte einer. »Schaut die Lichter dort wieder. Vergangene Nacht, behaupteten die Wächter, waren sie ebenfalls von Mitternacht bis zur Frühdämmerung zu sehen. Irgend etwas geht dort vor.«
»Vielleicht schmiedet der König unter dem Berg sein Gold«, bemerkte ein anderer. »Lang her, daß er nach Norden zog. Es wird Zeit, daß die alten Lieder wahr werden.«
»Von welchem König redet ihr?« fragte ein dritter mit grimmiger Stimme. »Viel wahrscheinlicher ist, daß das verheerende Feuer vom Drachen stammt, vom einzigen König unterm Berg, den wir je gekannt haben.«
»Geht, Ihr prophezeit immer nur schwarzes Unglück«, erwiderten die anderen. »Alles mögliche, von Überschwemmungen angefangen bis zu vergifteten Fischen. Denkt Euch einmal etwas Hübscheres aus.«
Da leuchtete plötzlich in den Vorbergen ein helles Licht auf, und das Nordende des Sees begann wie schieres Gold zu glühen. »Der König unter dem Berg!« schrien sie. »Sein Kronschatz schimmert sonnengleich, sein Gold trägt jeder Fluß ins Reich. Das Eilige Wasser, seht nur, trägt lauteres Gold aus dem Berg!« riefen sie. überall öffneten sich Fenster. Eilige Füße rannten über Treppen und durch Gänge.
Ein gewaltiger Begeisterungssturm erhob sich. Aber der Mann mit der grimmigen Stimme rannte zum Meister. »Der Drache kommt«, schrie er, »oder ich will ein Narr sein. Reißt die Brücke ab! Zu den Waffen, zu den Waffen!«
Plötzlich erklangen warnende Trompeten. Lang hallte das Echo von den Felsküsten zurück. Die Hochrufe brachen ab, die Freude verwandelte sich in Schrecken. Und so geschah es, daß der Drache die Menschen nicht ganz unvorbereitet traf.
Seine Fluggeschwindigkeit war nicht gering, und es dauerte nicht lange, bis sie ihn wie einen Feuerfunken herankommen sahen. Immer gewaltiger, blendend heller wurde der Drache, und die klugen Leute sahen nun ein, daß die Prophezeiungen sich leider ins Gegenteil verkehrten. Noch blieb ihnen ein wenig Zeit. Jedes Gefäß in der Stadt wurde mit Wasser gefüllt. Jeder Krieger war in Waffen, jeder Bolzen und jeder Pfeil lag griffbereit. Die Brücke zum Ufer wurde abgerissen und zerstört, ehe das schreckliche Getöse des nahenden Drachen lauter wurde und der See sich unter dem schaurigen Flügelschlag feuerrot kräuselte.
Mitten in das Geschrei und Jammern brach der Drache über sie herein. Er schwang sich zur Brücke herab – und sah sich überlistet. Die Brücke war verschwunden, und seine Feinde saßen drüben auf einer Insel im tiefen Wasser – zu tief, zu dunkel und zu kalt für einen Drachen. Hätte er sich hineingestürzt, so würde sich ein solcher Dampf erhoben haben, daß das ganze Land ringsum für Tage in dichtem Nebel versunken wäre. Aber der See war mächtiger als Smaug. Sein tiefes Wasser hätte die Feuerglut des Drachen gelöscht, ehe er hinüber gelangte.
Brüllend kehrte er um und flog über die Stadt. Ein Hagel dunkler Pfeile prasselte ihm entgegen. Sie klirrten gegen seine Schuppen und Juwelen, entzündeten sich in Smaugs vernichtendem Atem und fielen brennend und aufzischend in den See, ein Feuerwerk, wie man es sich prächtiger nicht vorstellen kann. Das Schwirren der Bogensehnen und das Schrillen der Trompeten machten Smaug blind vor Wut und Zorn. Keiner hatte jahrhundertelang gewagt, ihm eine offene Schlacht zu liefern.
Und wenn jener Mann mit der grimmigen Stimme nicht gewesen wäre (Bard war sein Name), so hätte es auch jetzt keiner gewagt. Bard rannte umher und schrie den Bogenschützen Mut zu. Er zwang den Meister, daß er ihnen befahl, bis zum letzten Pfeil zu kämpfen.
Feuer schoß dem Drachen aus dem Maul. Für eine Weile kreiste er hoch in der Luft und erleuchtete den ganzen See. Die Bäume an den Ufern schimmerten wie Kupfer und Blut. Ihre dunklen Schatten irrten gespenstisch am Boden. Dann brach Smaug geradewegs in den Pfeilhagel hinein, tollkühn in seiner Wut, und hatte nicht acht, ob sein Schuppenpanzer den Menschen zugekehrt war oder nicht: Sein einziger Gedanke war, die Stadt in Brand zu setzen.
Feuer sprang von den Strohdächern und von den Balkenenden auf, während Smaug sich immer von neuem herabstürzte, wendete und zurückkehrte. Was nützte es, daß alle Dächer mit Wasser begossen wurden, ehe er kam. Abermals flogen die Wassereimer hundert Hände entlang, wo immer ein Brand ausbrach. Aber immer wieder kehrte der Drache zurück. Ein Schlag mit seinem Schwanz, und die große Halle stürzte krachend zusammen. Hoch sprang die nicht mehr zu erstickende Flammensäule in die Nacht. Noch ein Angriff und noch einer: Der Feuersturm erfaßte ein Haus nach dem anderen, und es krachte zusammen. Kein Pfeil hielt Smaug zurück, keiner verletzte ihn mehr als ein Mückenstich drüben in den Sümpfen.
Schon sprangen an allen Seiten der Inselstadt die Menschen ins Wasser. Frauen und Kinder flüchteten in die Lastboote des Markthafens. Waffen wurden fortgeworfen. Kummer und Trauer herrschten, wo vor noch gar nicht langer Zeit die alten Lieder über die Zwerge und die kommenden frohen und heiteren Zeiten erklungen waren. Jetzt verfluchten sie die Zwerge. Der Meister aber flüchtete zu seinem großen, vergoldeten Boot und hoffte, in der allgemeinen Verwirrung davonrudern und sich in Sicherheit bringen zu können. Bald würde die ganze Stadt vernichtet sein, heruntergebrannt bis auf den dunklen Spiegel des Sees.
Das jedenfalls war Smaugs Absicht. Er hatte nichts dagegen, daß sie in ihre Boote kletterten. Das würde eine schöne Jagd geben! Oder er würde sie auf dem See aushungern. Gingen sie aber an Land, so würde er schon wissen, was er zu tun hatte. Den ganzen Uferwald würde er in Brand setzen, Feld und Weideland ausdorren. Gerade jetzt aber betrieb er die Vernichtung der Stadt wie einen Sport. Seit Jahren hatte ihm nichts mehr solchen Spaß gemacht.
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