So konnte Bilbo Thorins Botschaft heimlich jedem einzelnen der gefangenen Zwerge übermitteln. Er erzählte ihnen, daß Thorin, ihr Führer, nicht weit weg ebenfalls in einem Kerker saß und daß keiner Auftrag und Zweck der Unternehmung an den König verraten dürfe – jedenfalls nicht, ehe Thorin Weisung gab. Thorins Herz schlug wieder höher, als er erfuhr, wie der Hobbit seine Gefährten aus den Fängen der Spinnen errettet hatte. Aufs neue war er entschlossen, sich nicht beim Elbenkönig loszukaufen, indem er ihm einen Anteil am Schatz versprach, ehe nicht jede Hoffnung auf Flucht zunichte war. Genaugenommen hieß das: Ehe der bemerkenswerte Mister Unsichtbar Beutlin (von dem er allmählich eine sehr hohe Meinung bekam) nicht aufgab, weil ihm nichts Gescheites mehr einfiel.
Alle Zwerge stimmten zu, als sie die Botschaft erhielten. Jeder glaubte, der eigene Schatzanteil (den man schon als Eigentum ansah, trotz der Klemme, in der sie saßen, und trotz des unbesiegbaren Drachen) würde bedenklich leiden, wenn die Waldelben etwas davon forderten. Und so vertrauten sie Bilbo, und das war genau das, was Gandalf vorausgesagt hatte. Vielleicht war dies auch einer der Gründe gewesen, weshalb er fortgegangen und sie verlassen hatte.
Bilbo indessen war in keiner Weise so hoffnungsvoll wie die Zwerge. Er hatte es gar nicht gern, wenn jemand sich auf ihn verließ, und er wünschte herzlich, der Zauberer stünde ihm zur Seite. Aber da war nichts zu machen. Wahrscheinlich lag der ganze unheimliche Nachtwald zwischen ihnen. Er saß und dachte und dachte, und sein Kopf zerplatzte fast dabei. Aber es kam kein erleuchtender Gedanke. Ein Ring, der unsichtbar macht, ist eine feine Sache. Aber unter vierzehn war er nicht viel wert. Und doch konnte Bilbo, wie ihr natürlich schon erraten habt, am Ende doch noch seine Freunde retten. Und das geschah folgendermaßen: Als Bilbo eines Tages herumschnüffelte, machte er eine spannende Entdeckung: Die großen Tore waren nicht der einzige Eingang zu den Höhlen – ein Wasserlauf strömte unter den tiefsten Bezirken des Palastes dahin und vereinigte sich mit dem Nachtwaldfluß, und zwar ein wenig weiter ostwärts, jenseits des Steilhanges, in den der Haupteingang führte. Wo der unterirdische Fluß den Berg verließ, kam das Felsdach bis dicht auf den Wasserspiegel herab. An dieser Stelle konnte ein Fallgatter hinab in das Flußbett gelassen werden, so daß niemand auf diesem Weg herein- oder hinausgelangen konnte. Dieses Fallgatter jedoch stand nicht selten offen, denn es wurde in beiden Richtungen viel benutzt; wer von draußen hier hereinkam, befand sich in einem finsteren, roh geschlagenen Tunnel, der mitten ins Herz des Berges führte. Aber an einer Stelle, wo dieser Tunnel unter den Höhlen entlangführte, hatte man das Felsdach gesprengt und mit großen, eichenen Falltüren versehen. Sie führten in die königlichen Keller. Da standen Fässer, Fässer und abermals Fässer, denn die Waldelben, und besonders ihr König, waren ganz.versessen auf Wein – obgleich in diesen Gegenden keine einzige Rebe wuchs. Der Wein wurde, wie viele andere Güter, weither von ihren Verwandten im Süden gebracht oder auch aus fernen Ländern aus den Weinbergen der Menschen.
Als Bilbo sich hinter den Fässern verbarg, entdeckte er die Falltüren und ihren Verwendungszweck, und als er dort lauerte, belauschte er die königlichen Diener und erfuhr, wie Wein und andere Güter die Flüsse herauf oder auch über Land bis zum Langen See kamen. Dort schien es noch eine Stadt der Menschen zu geben. Sie war auf Pfahlwerk draußen im Wasser erbaut, eine Schutzmaßnahme gegen Feinde aller Art und besonders gegen den Drachen im Berg. Von dieser Seestadt aus wurden die Fässer den Nachtwaldfluß heraufgebracht. Oft waren sie zu mächtigen Flößen zusammengebunden, die den Strom hinauf gerudert oder gestakt wurden. Manchmal wurden sie auch auf flache Boote verladen.
Die Elben hinwiederum warfen die leeren Fässer durch die Falltüren. Dann öffneten sie die Gatter, und hinaus tanzten die Fässer auf dem Rücken des Flusses, bis die Strömung sie weit stromhinab bis zu jener Stelle trug, wo am Ostsaum des Nachtwaldes das Ufer scharf vorsprang. Dort wurden sie gesammelt, zusammengebunden und zurück zur Seestadt geflößt, die im Langen See, gleich an der Mündung des Nachtwaldflusses lag.
Eine geraume Zeit saß Bilbo hinter seinem Faß und dachte über das Fallgatter nach und überlegte, ob es seinen Freunden zur Flucht verhelfen könnte. Schließlich sah er die Anfänge eines tollkühnen Planes vor sich.
Das Abendessen war gerade den Gefangenen in die Zellen gebracht worden. Dunkel klang der Schritt der Wachen die Gänge hinab. Sie hatten die Fackeln mitgenommen und ließen alles in tiefer Finsternis zurück. Dann hörte Bilbo, wie der Kellermeister dem Befehlshaber der Wache gute Nacht sagte.
»Jetzt kommst du mit«, sagte er, »und versuchst den neuen Wein, der gerade eingetroffen ist. Heut nacht habe ich viel zu tun, denn ich muß den Keller von den leeren Fässern räumen.
Doch damit die Arbeit besser von der Hand geht, wollen wir erst einmal einen kräftigen Zug nehmen!«
»Sehr gut«, entgegnete der Befehlshaber der Wache lachend.
»Ich werde gern mithalten und probieren, ob der Wein für die königliche Tafel wirklich der richtige ist.
Heut nacht ist ein Fest, und da kann man kein schlechtes Zeug hinaufschicken.«
Als Bilbo das hörte, wurde er ganz aufgeregt, denn er sah, daß das Glück mit ihm war und daß er jetzt die Möglichkeit hatte, seinen verzweifelten Plan auszuführen. Er folgte den beiden Elben, bis sie in einen kleinen Keller eintraten und sich an einem Tisch niederließen, auf dem zwei dicke Bocksbeutel standen. Bald fingen sie an zu trinken und fröhlich zu lachen. Bilbo hatte ganz besonderes Glück, denn es muß schon ein sehr starker Wein sein, der Waldelben schläfrig macht. Aber dieser Wein, so schien es, war eine berauschend zu Kopf steigende Lese aus den großen Gärten von Dorwinion und nicht für des Königs Soldaten und Diener bestimmt, sondern einzig und allein für den König selbst – und außerdem für kleinere Karaffen und nicht für des Kellermeisters großen Krug.
Sehr bald sank dem Wachhabenden der Kopf vornüber. Er legte ihn auf die Tischplatte und fiel in Schlaf Der Kellermeister jedoch, der es nicht zu merken schien, fuhr noch eine Zeitlang fort, mit sich selbst zu reden und zu lachen. Aber bald fiel auch ihm der Kopf auf den Tisch, und er schlief ein und schnarchte neben seinem Freund. Da kroch der Hobbit hinein. Es dauerte gar nicht lang, und der Wachhabende hatte keine Schlüssel mehr, aber Bilbo trabte, so schnell er nur konnte, die Gänge hinunter zu den Zellen. Der große Bund war sehr schwer für seine Arme, und das Herz schlug ihm bis zum Hals (trotz des Ringes), denn er konnte nicht verhindern, daß die Schlüssel dann und wann mit einem lauten Kling oder Klang aneinanderschlugen. Und das jagte ihm jedesmal einen Schauder über den Rücken.
Zuerst schloß er Balins Tür auf. Kaum war der Zwerg draußen, so schloß er wieder sorgfältig ab. Balin war höchst überrascht, das könnt ihr euch denken. Und so froh er war, aus seinem jämmerlichen kleinen Felsenkerker herauszukommen, wollte er doch gleich stehenbleiben und Fragen stellen und genau wissen, was Bilbo vorhatte und noch eine Menge mehr.
Keine Zeit jetzt!« sagte der Hobbit. »Folgt mir nur. Wir müssen zusammenbleiben und dürfen uns auf keinen Fall voneinander trennen. Alle müssen entkommen oder keiner, und dies ist unsere letzte Chance. Wenn wir erwischt werden, dann mag der liebe Himmel wissen, wohin Euch der König als nächstes steckt – mit Ketten an den Händen und an den Füßen noch obendrein, vermute ich. Redet nicht, seid vernünftig!«
Dann ging er weiter von Tür zu Tür, bis sein Gefolge auf zwölf angewachsen war – von denen keiner sich sehr geschickt anstellte, was natürlich mit der Finsternis und der langen Gefangenschaft zusammenhing. Bilbos Herz drohte jedesmal zu zerspringen, wenn sie sich gegenseitig im Dunkeln anrempelten, wenn sie sich anbrummten oder miteinander flüsterten. Zum Henker mit diesem Zwergenspektakel! sagte er zu sich selbst. Aber alles ging gut, und sie trafen auf keine Wache.
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