An einen Kampf war nicht zu denken, selbst wenn die Zwerge nicht in einem solch elenden Zustand gewesen wären. Sie waren sogar froh, daß sie gefangengenommen wurden. Gegen Elbenpfeile, die das Auge eines Vogels im Dunkeln treffen, war Widerstand sinnlos. So hielten sie auf der Stelle an, setzten sich und warteten – alle, außer Bilbo, der seinen Ring ansteckte und sich rasch seitwärts in die Büsche schlug. Auf diese Weise zählten die Elben nie den Hobbit mit, als sie die Zwerge zu einer langen Reihe zusammenbanden und abzählten.
Auch hörten sie nicht, wie er hinter ihrem Fackelschein hertrottete, als sie ihre Gefangenen in den Wald abführten. Jedem Zwerg waren die Augen verbunden – aber das machte keinen großen Unterschied, denn selbst Bilbo, dem die Augen nicht verbunden waren, konnte nicht herausfinden, wohin sie gingen. Und weder er noch die anderen wußten, von wo sie aufgebrochen waren. Bilbo hatte genug damit zu tun, die Fackeln nicht aus den Augen zu verlieren, denn die Elben ließen die kranken, müden Zwerge, so schnell es nur eben ging, vor sich hertraben. Der König hatte Eile geboten. Plötzlich hielten die Fackeln an. Der Hobbit hatte gerade noch Zeit, sie einzuholen, dann überquerten sie eine Brücke. Es war die Brücke, die über den Fluß hin zum Tor des Königspalastes führte. Das Wasser floß dunkel und schnell und mit mächtigem Rauschen unter ihnen dahin, und auf der anderen Seite waren die Türflügel einer gewaltigen Höhle zu sehen, die in einen steilen, baumbestandenen Hang führte. Große Buchen kamen bis zum Ufer herab und tauchten ihre Wurzeln in den Strom.
Über diese Brücke stießen die Elben ihre Gefangenen. Aber Bilbo zögerte. Er schätzte den Anblick von Höhleneingängen nicht. Und so mußte er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um seine Freunde nicht im Stich zu lassen. Gerade noch rechtzeitig preschte er hinter den letzten Elben her, ehe die großen Torflügel schallend hinter ihm ins Schloß fielen.
Die Gänge im Innern waren von rotem Fackellicht erhellt, und die Elbenwache sang beim Marsch durch die sich windenden, einander kreuzenden und hallenden Wege. Sie waren anders beschaffen als die Stollen in der Orkstadt: Sie waren schmaler, lagen weniger tief unter der Erde, und es wehte ein reiner Luftstrom darin. In einer großen Halle, deren Pfeiler aus Fels gehauen waren, saß der Elbenkönig auf einem reichgeschnitzten Stuhl. Auf seinem Haupt trug er eine Krone aus Beeren und rotem Laub, denn der Herbst war gekommen. Im Frühling trug er eine Waldblumenkrone. In seiner Hand ruhte ein geschnitztes Eichenzepter.
Die Gefangenen wurden vor ihn geführt, und obgleich er sie grimmig anblickte, befahl er seinen Leuten, die Fesseln zu lösen, denn die Zwerge sahen zerlumpt und elend aus. »Außerdem brauchen sie hier drinnen keine Fesseln«, fügte er hinzu.
»Durch die verwunschenen Tore kann keiner entkommen, der einmal hier hereingebracht worden ist.«
Lange und eingehend verhörte er die Zwerge über ihre Absichten, was sie planten und woher sie kamen. Aber er erfuhr nicht mehr von ihnen als von Thorin. Sie waren mürrisch und wütend und beabsichtigten gar nicht erst, höflich zu sein.
»Was haben wir denn verbrochen, o König?« fragte Balin«, der jetzt der Älteste unter ihnen war. »Ist es ein Verbrechen, wenn man sich im Wald verirrt, hungrig und durstig ist und von den Spinnen überfallen wird? Sind die Spinnen Eure Haustiere oder Schoßhündchen, daß Ihr wütend werdet, wenn ein paar von ihnen umgekommen sind?«
Eine solche Frage machte den König natürlich nur noch wütender, und er antwortete: »Es ist ein Verbrechen, ohne meine Erlaubnis in meinem Reich umherzustromern. Habt ihr vergessen, wo ihr wart? Habt ihr nicht den Weg benutzt, den mein Volk geschlagen hat? Habt ihr meine Leute nicht dreimal im Wald verfolgt und belästigt, habt ihr nicht die Spinnen mit eurem Geschrei und Getobe aufgebracht? Nach all diesen Friedensbrüchen habe ich wohl ein Recht, zu wissen, was euch hierherführt. Und wenn ihr es mir jetzt nicht sagen wollt, halte ich euch gefangen, bis ihr Sitte und Anstand gelernt habt!«
Dann befahl er, jeden Zwerg in eine Einzelzelle zu sperren und jedem Essen und Trinken zu geben.
Aber keiner solle die Erlaubnis haben, die Schwelle seines kleinen Gefängnisses zu überschreiten, bis einer von ihnen willens sei, ihm zu berichten, was er zu hören wünschte. Aber er erzählte ihnen nicht, daß er Thorin gefangenhielt. Es war Bilbo, der es herausfand.
Der arme Mister Beutlin! Es war eine lange, mühselige Zeit, die er hier ganz allein verbrachte, immer verborgen. Niemals wagte er den Ring abzunehmen, kaum, daß er ein Auge Schlaf riskierte, und auch dann mußte er sich die dunkelsten und abgelegensten Winkel suchen, die überhaupt zu finden waren.
Um sich zu beschäftigen, begann er, durch den ganzen Königspalast zu wandern. Zauber verschloß die Tore, aber zuweilen, wenn er flink genug war, konnte er hinauswischen. Von Zeit zu Zeit nämlich ritten Gruppen von Waldelben zur Jagd aus (manchmal mit ihrem König an der Spitze), oder sie gingen anderen Geschäften in den Wäldern oder in den Feldern nach. Wenn Bilbo dann sehr behend war, konnte er dicht hinter ihnen hinausschlüpfen, obgleich das gefährlich war. Mehr als einmal wäre er beinahe von den Torflügeln erwischt worden, wenn sie hinter den letzten Elben zusammenkrachten. Aber wegen seines Schattens wagte er es nicht, sich unter sie zu mischen (obgleich sein Schatten im Fackelschein nur blaß und undeutlich war). Auch hatte er Furcht, daß jemand ihn anrempelte und er auf diese Weise entdeckt wurde. Und wenn er wirklich hinausging, was nicht sehr oft geschah, so war auch dies eine mißliche Sache. Die Zwerge wollte er nicht verlassen, und im übrigen hätte er sowieso nicht gewußt, wohin er ohne sie gehen sollte. Bei den jagenden Elben konnte er nicht die ganze Zeit mithalten, und so entdeckte er niemals die Wege hinaus aus dem Wald. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als verlassen durch den Wald zu streunen. Immer mußte er fürchten, daß er sich verirrte, bis ihm ein Glücksfall die Rückkehr erlaubte. Außerdem litt er draußen Hunger, denn er war kein Jäger. Aber im Innern der Höhle konnte er immerhin sein Leben dadurch fristen, daß er etwas Eßbares aus der Vorratskammer oder vom Tisch stahl, wenn gerade niemand anwesend war.
Ich komme mir wie ein Einbrecher vor, der nicht mehr ausbrechen kann, dachte er. Ich muß elend weiter einbrechen, immer im selben Haus, Tag für Tag. Das ist das dümmste und ödeste Kapitel bei diesem ganzen verrückten, mühsamen, unerfreulichen Abenteuer! Ich wünschte, ich wäre daheim in meiner Hobbithöhle unter der brennenden Lampe vor dem warmen Kamin! Oft wünschte er auch, daß er dem Zauberer hätte eine Botschaft senden können. Aber das war natürlich ganz unmöglich. Und bald wurde es ihm klar, daß, wenn überhaupt etwas getan werden konnte, es ganz allein, und ohne Hilfe, von Mister Beutlin getan werden mußte.
Schließlich gelang es Bilbo, nachdem er sich ein oder zwei Wochen im Verborgenen herumgedrückt, die Wachen beobachtet, ihnen nachgespürt und jeden sich bietenden Glücksfall wahrgenommen hatte, herauszufinden, wo jeder Zwerg gefangensaß. An den unterschiedlichsten Stellen des Palastes entdeckte er die zwölf Zellen, und nach einer Weile kannte er auch die Wege dorthin sehr gut. Wie groß aber war seine überraschung, als er eines Tages einige Wachen belauschte und heraushörte, daß da noch ein anderer Zwerg im Gefängnis saß, und zwar an einem besonders tiefen Platz. Er erriet natürlich sofort, daß es sich um Thorin handeln müsse, und nach einer Weile fand er, daß seine Vermutung richtig war. Schließlich konnte er nach großen Schwierigkeiten, als niemand in der Nähe war, sich an ihn heranmachen und ein Wort mit dem Führer der Zwerge wechseln.
Thorin war zu elend, um länger mit seinem Mißgeschick zu hadern, ja, er hatte es sich schon überlegt und wollte dem König alles über den Drachen und die Suche nach dem Schatz erzählen (und das zeigt, wie kleinmütig er geworden war). Da hörte er Bilbos leise Stimme am Schlüsselloch. Zuerst traute er seinen Ohren nicht. Aber dann kam er zu der überzeugung, daß er sich doch nicht getäuscht haben konnte. Er ging zur Tür – und hatte eine lange gewisperte Unterredung mit dem Hobbit auf der anderen Seite.
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