Aber es gab nichts, rein gar nichts. Und keiner war überhaupt noch in der Lage, herumzustöbern oder gar nach dem verlorenen Pfad zu fahnden. Der verlorene Pfad! Kein anderer Gedanke wollte mehr in Bilbos müden Kopf kommen. Er saß und starrte die endlosen Baumreihen vor sich an, und nach einer Weile wurden sie alle wieder still. Alle, ausgenommen Balin.
Lange nachdem die anderen aufgehört hatten zu reden und nachdem ihnen die Augen zugefallen waren, murmelte er noch immer und lachte in sich hinein: »Gollum! Jetzt geht mir ein Licht auf! Er ist an mir vorbeigeschlichen – nun ist es mir klar.
Lautlos dahergekrochen, nicht wahr, Mister Beutlin? Knöpfe überall auf der Torschwelle! Guter alter Bilbo – Bilbo – bobobo« – damit schlief er ein, und für eine lange Weile herrschte völliges Schweigen.
Ganz plötzlich öffnete Dwalin ein Auge und blickte sie der Reihe nach an. »Wo ist Thorin?« fragte er.
Sie erschraken furchtbar. Natürlich, da lagen nur dreizehn, zwölf Zwerge und ein Hobbit. Wo aber war Thorin? Sie zerbrachen sich den Kopf, welch böses Verhängnis ihm widerfahren sein mochte. War es Zauberei, oder war er in die Fänge finsterer Ungeheuer geraten? Schauer liefen ihnen über den Rücken, wie sie so verloren im Wald hockten. Und als der Abend in schwarze Nacht überging, fiel einer nach dem andern in schweren Schlaf voll schauriger Träume. Darin müssen wir sie jetzt liegen lassen. Im übrigen waren sie viel zu krank und zu müde, um Wachen aufzustellen oder wenigstens der Reihe nach die Augen aufzuhalten.
Thorin aber war viel eher als die anderen gefangen worden. Ihr erinnert euch, wie Bilbo einem Baumstamm gleich in tiefen Schlaf gefallen war, als er in den Lichtkreis der Elben eindrang? Als nächster war Thorin gefolgt. Und als die Lichter auslöschten, stürzte er um wie ein verzauberter Stein.
Aller Lärm der Zwerge, die sich in der Nacht verirrt hatten, alles Geschrei, als sie von den Spinnen gefangen und gefesselt wurden, ja selbst das Getöse der Schlacht am folgenden Tag war ungehört über ihn hinweggegangen. Dann waren die Waldelben gekommen, hatten ihn gebunden und fortgetragen.
Die Feiernden waren natürlich Waldelben gewesen, und Waldelben sind alles andere als ein hinterhältiges Volk. Wenn sie einen Fehler haben, so ist es ihr ausgesprochenes Mißtrauen gegen Fremde, und obgleich ihr Zauber sehr stark war, blieben sie doch selbst in jenen Tagen äußerst vorsichtig. Sie unterschieden sich sehr von den Hochelben des Westens. Sie waren gefährlicher als diese und auch nicht so weise. Die meisten von ihnen (und auch ihre in den Bergen zerstreut lebenden Verwandten) stammten von jenen uralten Stämmen ab, die niemals nach Faerie gezogen waren. Dort lebten die Lichtelben, die Unterirdischen (oder Gnomen) und die See-Elben seit langer, langer Zeit. Sie waren schöner, weiser und geschickter geworden, hatten manchen Zauber erfunden und ihre Kunstfertigkeit vervollkommnet, so daß sie schöne und wunderbare Dinge herstellen konnten, ehe sie in die Weite Welt zurückkehrten. Die Waldelben indessen waren im Zwielicht, das vor dem Aufgang von Sonne und Mond herrschte, geblieben. Später wanderten sie in die Wälder, die gegen Sonnenaufgang wuchsen. Waldsäume, von denen sie auf Jagd ziehen oder im Mond- und Sternenlicht weit in das offene Land hinaus rennen und reiten konnten, mochten sie besonders gern. Als die Menschen kamen, zogen sie sich immer mehr in die Dämmerung zurück. Aber es waren und blieben Elben. Und Elben sind gute Wesen.
In einer großen Höhle, einige Meilen vor dem Ostrand des Nachtwaldes, lebte zur Zeit unserer Geschichte ihr größter König. Vor ihren hohen Steintoren floß ein Strom hinaus in die Sümpfe, die sich am Fuß der Waldhöhen ausbreiteten. Diese Höhle, von der unzählige kleinere nach allen Seiten abzweigten, wand sich mit all ihren Durchlässen und Hallen tief unter der Erde dahin. Aber sie war heller und gesünder als jede Orkbehausung und weder so tief noch so gefährlich. Die Untertanen des Königs lebten und jagten ja meistens in den offenen Wäldern. Draußen besaßen sie Hütten auf der Erde und in den Zweigen. Ihre Lieblingsbäume waren Buchen. Die Königshöhle indessen diente als Palast, feste Schatzkammer und in Kriegszeiten dem Volk als Festung.
Hier war auch das Verlies für die Gefangenen. Deshalb schleppten sie Thorin dorthin – nicht sehr rücksichtsvoll, denn Zwerge mochten sie nicht leiden, und überdies hielten sie Thorin für einen Feind.
In alten Tagen hatten sie sogar Krieg mit einigen Zwergengeschlechtern geführt, die sie bezichtigten, ihren Schatz gestohlen zu haben. Anstandshalber muß aber gesagt werden, daß die Zwerge die Sache anders darstellten. Sie behaupteten nämlich, sie hätten nur genommen, was ihnen zustand. Der Elbenkönig habe mit ihnen ausgehandelt, sie sollten sein Rohgold und sein Silber schmieden und bearbeiten – und hinterher habe er die Bezahlung verweigert. Und in der Tat, wenn der Elbenkönig eine Schwäche hatte, so waren es Schätze – besonders aber Silber und geschnittene weiße Edelsteine.
Obgleich sein Hort reich war, war er doch auf immer mehr bedacht, denn noch war sein Schatz nicht so groß wie der Schatz anderer Elbenfürsten aus vergangenen Zeiten. Seine Leute schürften weder Metalle und Edelgestein, noch bearbeiteten sie es. Sie gaben sich nicht mit Handelsgeschäften ab und bestellten auch nicht den Boden. All das war jedem Zwerg wohlbekannt (obgleich Thorins Familie nichts mit dem alten Streit zu tun hatte, von dem ich eben sprach). Infolgedessen war Thorin rechtschaffen wütend, als sie ihren Bann von ihm nahmen und er zur Besinnung kam. Und er nahm sich vor, daß man kein einziges Wort über Gold und Juwelen von ihm hören sollte.
Streng blickte der König Thorin an, als man ihn vor ihn brachte, und stellte viele Fragen. Aber Thorin antwortete bloß, daß er vor Hunger bald umkäme.
»Warum habt Ihr dreimal mein Volk mitten beim Fest angegriffen?« fragte der König.
»Wir haben Euer Volk nicht angegriffen«, antwortete Thorin.
»Wir kamen als Bettler, weil wir elenden Hunger hatten.«
»Wo sind Eure Freunde jetzt, und was machen sie?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich denke, sie sterben vor Hunger im Wald.«
»Was hattet Ihr im Wald zu schaffen?«
»Essen und Trinken suchen, denn wir hatten Hunger.«
»Aber was führte Euch in den Wald hinein?« fragte der König wütend.
Da schloß Thorin den Mund und wollte kein Wort mehr sagen.
»Wie Ihr wollt!« sagte der König. »Führt ihn fort und setzt ihn hinter Schloß und Riegel, bis er bereit ist, die Wahrheit zu sprechen, und selbst wenn er hundert Jahre dazu braucht.«
Dann fesselten ihn die Elben und sperrten ihn in einen der untersten Kerker, die mit starken Bohlentüren verschlossen waren. Sie gaben ihm viel zu essen und viel zu trinken (allerdings war es nichts sehr Feines). Wie dem auch sei, Waldelben sind keine Orks. Wenn sie Gefangene gemacht haben, benehmen sie sich selbst ihren schlimmsten Feinden gegenüber noch ziemlich gesittet. Die Riesenspinnen waren die einzigen Lebewesen, denen sie keinen Pardon gaben.
So lag der arme Thorin im Verlies des Königs. Und nachdem er dankbar Brot, Fleisch und Wasser zugesprochen hatte, begann er darüber nachzudenken, was aus seinen unglücklichen Freunden geworden sein mochte. Es sollte nicht lang dauern, bis er dahinterkam – aber das gehört zum nächsten Kapitel und ist der Anfang eines anderen Abenteuers, in dem der Hobbit abermals seine Nützlichkeit bewies.
Am Tag nach der Schlacht mit den Spinnen machten Bilbo und die Zwerge eine letzte verzweifelte Anstrengung, einen Weg hinaus zu finden, ehe sie vor Hunger und Durst umkamen. Sie standen auf und taumelten in die Richtung, die acht von dreizehn für diejenige hielten, in der ihr Pfad lag. Aber sie fanden nie heraus, ob sie recht hatten. Nochmals wurde einer der blassen Waldestage von tiefschwarzer Nacht abgelöst, da sprang plötzlich ringsum ein Lichtschein von vielen Fackeln wie Hunderte von roten Sternen auf. Waldelben mit Bogen und Pfeil rannten auf sie zu und geboten den Zwergen Halt.
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