Ohne die grüne Haut, das entstellte, mit Fangzähnen versehene Gesicht und die feindselige überlegene Haltung, hätte man sie fast schon attraktiv nennen können. Doch sie saß in seiner Bibliothek und ging seine Bücher durch (nun ja, Medivhs Bibliothek und Medivhs Bücher, aber der Magus hatte sie ihm anvertraut) .
»Du bist also die Abgesandte«, sagte er schließlich. Er schlug einen entspannten Tonfall an. »Man hat mir gesagt, du würdest eintreffen.«
Die Halb-Ork nickte und konzentrierte sich auf die geschriebenen Worte, die vor ihr ausgebreitet waren.
»Wen genau repräsentierst du eigentlich?«
Garona sah auf, und Khadgar erkannte an ihrem Blick, dass er ihr auf die Nerven ging. Er fühlte sich gut dabei, fragte sich aber gleichzeitig, wo die Frau wohl die Grenze ziehen würde. Er wollte nicht zu hart oder zu schnell vorgehen, sonst würde er sich nur weitere Schläge und eine Standpauke des Magus einhandeln.
Dieses Mal wollte er zumindest etwas über die Schlacht erfahren. Er sagte: »Ich meine, wenn du die Abgesandte bist, muss dir doch jemand Befehle geben, du musst jemandem Bericht erstatten. Wenn repräsentierst du?«
»Ich bin sicher, dein Meister würde es dir sagen, wenn du ihn fragst«, erwiderte Garona glatt, aber ihr Blick blieb hart.
»Ich bin sicher, das würde er«, log Khadgar. »Wenn ich die Unverschämtheit besitzen würde, ihn zu fragen. Also frage ich stattdessen dich. Wen repräsentierst du? Welche Befugnisse hast du? Bist du hier, um zu verhandeln, um etwas zu fordern … oder was?«
Garona schloss das Buch (Khadgar empfand es wie einen Sieg, dass er sie von ihrer Aufgabe abgelenkt hatte) und sagte: »Denken alle Menschen gleich?«
»Es wäre langweilig, wenn wir das täten«, sagte Khadgar.
»Ich meine, sind alle einer Meinung? Stimmen die Menschen immer dem zu, was ihre Herren oder Vorgesetzten wollen?«, fragte Garona. Die Härte in ihrem Blick schwächte ein wenig ab.
»Wohl kaum«, sagte Khadgar. »Das ist einer der Gründe, warum es so viele Bücher gibt. Jeder hat eine Meinung. Und das sind nur die Meinungen derer, die des Schreibens mächtig sind.«
»Dann wirst du verstehen, dass es unter den Orks auch Meinungsverschiedenheiten gibt«, sagte Garona. »Die Horde besteht aus vielen Clans, und alle haben eigene Häuptlinge und Kriegsherren. Alle Orks gehören einem Clan an. Die meisten Orks sind ihrem Clan und ihrem Häuptling ergeben.«
»Was für Clans sind das?«, fragte Khadgar. »Wie werden sie genannt?«
»Stormreaver ist einer von ihnen«, sagte die Halb-Ork. »Blackrock, Twilight’s Hammer, Bleeding Hollow. Das sind die größten.«
»Klingt alles sehr kriegerisch«, sagte Khadgar.
»Die Heimat der Ork-Völker ist wild«, sagte Garona. »Es überleben nur die, die stark und gut organisiert sind. Sie sind nur das, wozu ihre Wurzeln sie gemacht haben.«
Khadgar dachte an das vertrocknete Land mit dem roten Himmel, das er in der Vision gesehen hatte. Das war also die Heimat der Orks. Eine Einöde in einer anderen Dimension. Aber wie kamen sie hierher? Doch das fragte er nicht.
»Zu welchem Clan gehörst du?«
Garona schnaufte. Es klang wie das Niesen einer Bulldogge. »Ich habe keinen Clan.«
»Du sagtest doch, alle deine Leute gehören einem Clan an.«
»Ich sagte, alle Orks «, erwiderte Garona. Als Khadgar sie verwirrt ansah, hob sie ihre Hand. »Schau sie dir an. Was siehst du?«
»Deine Hand«, sagte Khadgar.
»Die eines Menschen oder die eines Orks?«
»Ork«, sagte Khadgar. Für ihn war das offensichtlich. Grüne Haut, scharfe, gelbliche Nägel, Knöchel, die ein wenig zu groß für einen Menschen waren.
»Ein Ork würde das für eine menschliche Hand halten. Sie ist zu schlank, um wirklich nützlich zu sein, hat zu wenig Muskeln, um eine Axt zu halten oder einen Schädel vernünftig einzuschlagen – zu blass, zu schwach und zu hässlich.« Garona ließ ihre Hand sinken und sah den jungen Magier von unten an. »Du siehst die Teile von mir, die orkisch sind. Meine orkischen Vorgesetzten und alle anderen Orks sehen die Teile, die menschlich sind. Ich bin beides und doch nichts, und beide Seiten halten mich für ein minderwertiges Wesen.«
Khadgar öffnete den Mund und wollte widersprechen, entschied sich dann aber dagegen und schwieg. Er hatte schließlich auch die Ork-Frau angegriffen, die er im Gang gesehen hatte – und nicht den Menschen in ihr gesehen, der Medivhs Gast war. Er nickte und sagte: »Es muss schwierig sein, ohne Clanzugehörigkeit zu leben.«
»Ich habe daraus meinen Vorteil gezogen«, sagte Garona. »Ich kann mich freier zwischen den Clans bewegen. Da ich ein Zwitter-Wesen bin, glaubt niemand, dass ich ständig auf Vorteile für meinen eigenen Clan aus bin. Niemand mag mich, deshalb habe ich keine Vorlieben. Einige Häuptlinge finden das beruhigend. Das macht mich zu einem besseren Verhandlungsführer – und ja, auch zu einem besseren Spion. Es ist besser, keinem Herrn zu dienen als mehreren.«
Khadgar dachte daran, wie scharf Medivh seine Verbindungen zu den Kirin Tor kritisiert hatte, sagte jedoch: »Und welchen Clan repräsentierst du momentan?«
Garona lächelte trocken und zeigte ihre Fangzähne. »Würde dir der Name Gizblah, der Mächtige etwas sagen? Oder vielleicht hat mich Morgax, der Graue oder Hikapik, der Blutige geschickt. Würden dir diese etwas sagen?«
»Vielleicht«, sagte Khadgar.
»Nein«, sagte Garona, »weil ich diese Namen gerade erfunden habe. Und der Name der Gruppe, die mich geschickt hat, würde dir jetzt auch noch nichts sagen. Genauso bedeutet die Freundschaft, die den alten Mann mit einem gewissen König Llane verbindet, unseren Häuptlingen nichts – und der Name Lothar ist nur ein Fluch, der von den Lippen menschlicher Bauern kommt, wenn wir ihnen begegnen. Bevor es zu einem Frieden oder echten Verhandlungen kommen kann, müssen wir mehr über euch erfahren.«
»Weshalb du hier bist.«
Garona seufzte tief. »Weshalb ich bete, dass du mich so lange in Ruhe lässt, dass ich herausfinden kann, worüber der alte Mann redet, wenn wir uns unterhalten.«
Khadgar schwieg einen Moment lang. Garona öffnete das Buch erneut und blätterte die Seiten bis zu der Stelle durch, an der sie unterbrochen worden war.
»Natürlich beruht das auf Gegenseitigkeit«, sagte Khadgar, und Garona schloss das Buch mit einem theatralischen Seufzer. »Ich meine, dass wir auch mehr über die Orks erfahren müssen, wenn wir mehr als nur gegen sie kämpfen wollen. Wenn ihr ernsthaft den Frieden wollt.«
Garona starrte Khadgar an, und für einen Moment befürchtete der junge Magier, die Halb-Ork würde über den Tisch springen und ihn erwürgen. Stattdessen stellte sie ihre Ohren auf und sagte: »Moment, was ist das?«
Khadgar fühlte es, bevor er es hörte. Eine plötzliche Veränderung in der Luft, als habe man irgendwo im Turm ein Fenster geöffnet. Eine leichte Brise wirbelte den Staub im Gang auf. Eine warme Welle glitt durch den Turm.
Khadgar sagte: »Da ist etwas …«
Garona erwiderte: »Ich habe es gehört …«
Und dann hörte es auch Khadgar, das Geräusch eiserner Klauen, die über Stein schabten. Er spürte, wie die Luft um ihn herum wärmer wurde und sich die Haare in seinem Nacken aufstellten.
Und die große Bestie trat in die Bibliothek.
Sie bestand aus Feuer und Schatten. Ihre Haut war dunkel, Flammen waren darin zu sehen. Aus ihrem wolfsartigen Gesicht ragten geschwungene Hörner hervor, die wie poliertes Elfenbein glänzten. Sie sah aus wie ein Zweibeiner, ging jedoch auf allen vieren. Die langen Klauen kratzten über den Boden.
»Was ist …?«, zischte Garona.
»Dämon«, sagte Khadgar mit erstickter Stimme. Er erhob sich und wich vom Tisch zurück.
»Dein Diener sagte, es gäbe hier Visionen. Geister. Ist das einer?« Garona stand ebenfalls auf.
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