Khadgar ging die Treppe wieder hinunter und fragte sich, wer der Abgesandte wohl sein mochte. Ein Spion für Lothar? Ein Mitglied des Ordens, das sich geheimnisvoll geben wollte? Vielleicht ein Angehöriger der Kirin Tor, jener mit der spinnenartigen Handschrift und den giftigen Theorien? Oder vielleicht eine ganz andere Person? Es war frustrierend, nichts zu wissen und – noch schlimmer –, nicht das Vertrauen des Magus zu genießen.
»Man wird uns sagen, was wir wissen müssen«, murmelte Khadgar und betrat die Bibliothek. Seine Notizen und Bücher lagen so über die Tische verteilt, wie er sie zurückgelassen hatte. Er warf einen Blick darauf und auf das Schema eines Bildbeschwörungsspruchs. Seit seinem letzten Versuch hatte er einiges hinzugefügt und hoffte, sein Resultat jetzt verbessern zu können.
Khadgar betrachtete die Notizen und lächelte. Dann nahm er die Phiolen mit pulverisierten Diamanten und ging nach unten. Er brachte einige Stockwerke mehr zwischen sich und Medivhs Audienzkammer, bis er zu einem der verlassenen Bankettsäle gelangte.
Zwei Stockwerke tiefer, perfekt. Der Raum war elliptisch geformt und verfügte über je einen Kamin an beiden Enden. Der große Tisch war längst in ein anderes Zimmer gebracht worden, die alten Stühle standen aufgereiht an einer Wand. Es gab nur einen Eingang. Der Boden bestand aus weißem Marmor, war alt und aufgesprungen, jedoch sauber. Moroes’ endlose Hingabe und Aufopferung sorgten dafür.
Khadgar schuf einen magischen Kreis aus Amethyst und Rosenquarz. Er grinste, während er die Linien anfertigte. Er war sicherer bei seinen Zaubersprüchen geworden und benötigte sein zeremonielles Zaubergewand nicht mehr als Glücksbringer. Er zeichnete das Schutzmuster und lächelte immer noch. Er konzentrierte die Energie bereits in seinem Kopf, rief die notwendigen Formen und Arten der Magie auf, zwang sie in eine Form und hielt ihre Energie zurück, bis sie benötigt wurde.
Er trat in den Kreis, sprach die Worte, die gesprochen werden mussten, malte die Zeichen in perfekter Harmonie mit seinen Händen in die Luft und ließ die Energie frei. Er spürte, wie sich etwas in seinem Geist und in seiner Seele berührte und rief die Magie herbei.
»Zeige mir, was in Medivhs Quartieren geschieht«, forderte er. In ihm zuckte es nervös. Er hoffte, dass die Schutzzauber des Wächters sich nicht auch gegen seinen Schüler richteten.
Er erkannte sofort, dass der Zauber misslungen war. Es war keine Katastrophe, die magischen Energien waren nicht kollabiert … es war mehr wie eine Fehlzündung. Vielleicht richteten sich die Schutzzauber auch gegen ihn und hatten seine Visionen an einen anderen Ort abgelenkt.
Mehrere Umstände verrieten ihm, dass der Zauber fehlgeschlagen war. Zum einen herrschte hier Tageslicht. Zum anderen war es warm. Und zuletzt kannte er diesen Ort auch noch.
Er war noch nie hier gewesen, zumindest nicht in dieser Turmspitze, aber es war klar, dass er sich in der Burg von Stormwind befand und über die Stadt hinwegblickte. Es handelte sich um einen der höheren Türme, und der Raum ähnelte dem, in dem die beiden Angehörigen des Ordens Monate zuvor ihr Ende gefunden hatten. Die Fenster waren jedoch größer, und es gab leuchtend weiße Balkone. Eine warme Brise bewegte die Vorhänge. Farbenfrohe Vögel saßen auf goldenen Stangen entlang der Wände des Zimmers.
Vor Khadgar befand sich ein kleiner gedeckter Tisch. Er sah weiße, mit goldenen Rändern versehene Porzellanteller, goldene Messer und Gabeln. In Kristallschalen lagen Früchte, die so frisch waren, dass der Morgentau noch an ihren Schalen hing. Khadgar spürte, wie sein Magen bei diesem Anblick zu knurren begann.
Neben dem Tisch stand ein dünner Mann, den Khadgar nicht kannte. Er hatte ein schmales Gesicht und eine breite Stirn. Oberlippen- und Kinnbart waren schmal und sorgfältig gestutzt. Er trug eine reich verzierte rote Decke, die Khadgar nach einem Moment als Robe erkannte und die mit einem goldenen Gürtel über seiner Hüfte gehalten wurde. Er berührte eine der Gabeln und bewegte sie ein kleines bisschen zur Seite. Dann nickte er zufrieden. Er sah Khadgar an und lächelte.
»Ah, du bist wach«, sagte er mit einer Stimme, die Khadgar vage bekannt vorkam.
Für einen Augenblick dachte Khadgar, die Vision könne ihn wahrnehmen, doch der Mann sprach zu jemandem hinter ihm. Er drehte sich um und entdeckte Aegwynn, die so jung und schön war wie auf dem Schneefeld. (Hatten sich diese Ereignisse vorher oder nachher abgespielt? Ihr Aussehen verriet es ihm nicht.) Sie trug ein weißes Cape mit grünem Rand, das aus Seide, nicht aus Fell bestand, und ihre Füße steckten nicht in Stiefeln, sondern einfachen weißen Sandalen. Ihr blondes Haar wurde von einem silbernen Diadem gehalten.
»Du scheinst dir sehr viel Mühe gemacht zu haben«, sagte sie. Khadgar konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.
»Mit genügend Magie und Sehnsucht ist nichts unmöglich«, sagte der Mann und drehte seine Hand, sodass die Innenfläche nach oben zeigte. Darüber schwebte eine blühende Orchidee.
Aegwynn nahm die Blume, roch kurz daran und legte sie dann auf den Tisch. »Nielas …«, begann sie.
»Lass uns zuerst frühstücken«, erwiderte der Magier Nielas. »Sieh dir an, was ein Hofzauberer bereits am frühen Morgen besorgen kann. Diese Beeren wurden vor weniger als einer Stunde in den königlichen Gärten gepflückt …«
»Nielas …«, begann Aegwynn erneut.
»Gefolgt von in Butter geschwenktem Schinken mit Sirup«, fuhr der Magier fort.
»Nielas …«, wiederholte Aegwynn.
»Dann vielleicht einige Vrocka-Eier , die wir mit einem einfachen Zauber, den ich auf den Inseln erlernte, am Tisch in ihren Schalen braten können?«, fragte der Magier.
»Ich werde gehen«, sagte Aegwynn ruhig.
Ein Schatten glitt über das Gesicht des Magiers. »Gehen? So bald? Noch vor dem Frühstück? Ich dachte, wir könnten uns noch ein wenig unterhalten.«
»Ich werde gehen«, sagte Aegwynn. »Ich habe meine eigenen Aufgaben und keine Zeit für die Annehmlichkeiten des Morgens danach .«
Der Hofzauberer wirkte verwirrt. »Ich dachte, dass du nach der letzten Nacht vielleicht eine Weile in Stormwind bleiben würdest.« Er blinzelte. »Möchtest du das nicht?«
»Nein«, sagte Aegwynn. »Nach der letzten Nacht gibt es für mich keinen Grund mehr zu bleiben. Ich habe erreicht, was ich wollte. Ich muss hier nicht länger sein.«
In der Gegenwart verzog Khadgar das Gesicht, als die Puzzlestücke anfingen, Sinn zu ergeben. Deshalb klang die Stimme des Magiers so vertraut.
»Aber ich dachte …«, stammelte Nielas, doch die Wächterin schüttelte den Kopf.
»Du, Nielas Aran, bist ein Narr«, sagte Aegwynn ruhig.
»Du bist einer der mächtigsten Zauberer im Orden von Tirisfal und doch bist und bleibst du ein Narr. Das sagt einiges über den Rest des Ordens aus.«
Nielas Aran holte tief Luft. Er wollte vermutlich wütend erscheinen, doch er wirkte nur eingeschnappt. »Einen Moment mal …«
»Hast du etwa wirklich geglaubt, dass dein bloßer Charme mich in dein Schlafzimmer gelockt hat – oder dein Witz und deine Gesprächskunst mich von unseren Diskussionen über Beschwörungsriten abgelenkt haben? Sicherlich verstehst du, dass ich mich von deiner Position als Hofzauberer nicht so einschüchtern lasse, wie das vielleicht eine Dorfkuhhirtin täte. Und natürlich verstehst du auch, dass zu einer Verführung zwei gehören. Ein so großer Narr kannst selbst du nicht sein, Niels Aran.«
»Natürlich nicht«, sagte der Hofzauberer, den die Worte schmerzen mussten, was er jedoch verbarg. »Ich dachte nur, dass wir wie zivilisierte Menschen gemeinsam frühstücken könnten.«
Aegwynn lächelte, und Khadgar erkannte, dass es ein grausames Lächeln war. »Ich bin so alt wie ganze Dynastien – und meine mädchenhaften Wünsche habe ich bereits im ersten Jahrhundert meines Lebens hinter mir gelassen. Ich habe genau gewusst, was ich tat, als ich gestern Nacht dein Schlafgemach betrat.«
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