»Du meinst die Orks? Es stimmt, das haben einige versucht«, sagte Medivh ruhig. »Einige Orks haben versucht mich zu töten. Und versucht dich zu töten. Garona gehörte nicht zu dieser Gruppe. Das glaube ich zumindest. Sie ist hier als Repräsentantin ihres Volkes. Zumindest eines Teils ihres Volkes.«
Garona. Also hat die Hexe einen Namen , dachte Khadgar. Laut sagte er: »Wir wurden von Orks angegriffen. Ich hatte Visionen von Ork-Angriffen. Ich habe die Nachrichten aus ganz Azeroth gelesen, die von Überfallen und Angriffen der Orks sprechen. Immer wieder hört man von der Brutalität und Grausamkeit der Orks. Es scheint jeden Tag mehr von ihnen zu geben. Das ist ein gefährliches und bestialisches Volk!«
»Sie hat dich mit Leichtigkeit besiegt, richtig?«, fragte Medivh und blickte von seiner Arbeit auf.
Obwohl er es nicht wollte, berührte Khadgar seinen Mundwinkel, an dem das Blut bereits getrocknet war. »Damit hat es nichts zu tun.«
»Natürlich nicht«, antwortete Medivh. »Und womit hat es etwas zu tun?«
»Sie ist eine Ork. Sie ist gefährlich. Und Ihr habt ihr freien Zugang zum Turm gestattet.«
Medivh knurrte. In seiner Stimme war plötzlich eisige Schärfe. »Sie ist eine Halb-Ork. Sie ist ungefähr so gefährlich wie du, wenn man die Situation und ihre Absichten bedenkt. Und sie ist mein Gast und sollte mit dem ihr zustehenden Respekt behandelt werden. Das erwarte ich von dir.«
Khadgar schwieg einen Moment, bevor er einen neuen Ansatz versuchte. »Sie ist die Abgesandte?«
»Ja.«
»Von wem wurde sie entsandt?«
»Von einem oder mehreren der Clans, die momentan den Schwarzen Morast bewohnen«, sagte Medivh. »Ich weiß noch nicht, welche. So weit sind wir noch nicht gekommen.«
Khadgar blinzelte überrascht. »Ihr habt sie in unseren Turm gelassen, obwohl sie keine offizielle Funktion bekleidet?«
Medivh legte die Zange zur Seite und seufzte müde. »Sie hat sich mir als Repräsentantin einiger Clans vorgestellt, die momentan Azeroth unsicher machen. Wenn wir diese Angelegenheit ohne Feuer und Schwert klären wollen, dann muss jemand anfangen zu reden. Warum also nicht hier? Und nebenbei bemerkt ist dies mein Turm, nicht unserer. Du bist mein Schüler, mein Lehrling und bist hier, weil es mir so gefällt. Und als mein Schüler und Lehrling erwarte ich von dir ein vorurteilsfreies Verhalten.«
Es herrschte Stille, als Khadgar über diese Worte nachdachte. »Also – wen repräsentiert sie? Einige, alle oder keinen Ork?«
»Momentan repräsentiert sie nur sich selbst«, sagte Medivh und seufzte irritiert. »Nicht alle Menschen glauben an die gleichen Dinge. Es gibt keinen Grund, warum das bei den Orks anders sein sollte. Meine Frage an dich lautet: Wenn man deine natürliche Neugier bedenkt, warum versuchst du nicht bereits so viele Informationen wie möglich aus ihr herauszuholen, anstatt mir zu sagen, was ich zu tun habe? Oder bezweifelst du, dass ich mit einem einzigen Halb-Ork fertig werde?«
Khadgar schwieg. Sein Verhalten und seine Unfähigkeit, die Dinge aus mehr als nur einer Perspektive zu betrachten, waren ihm peinlich. Zweifelte er an Medivh? War es möglich, dass der Magus sich in einer Weise verhielt, die gegen seinen Orden gerichtet war? Die Frage brannte in ihm, wurde noch angefacht durch Lothars Worte, durch die Vision des Dämons und die Intrigen des Ordens. Er wollte den älteren Mann warnen, aber jedes Wort schien auf ihn selbst zurückzufallen.
»Ich mache mir manchmal Sorgen um Euch«, sagte er schließlich.
»Und ich mache mir manchmal Sorgen um dich«, erwiderte der ältere Magier wie geistesabwesend. »Ich mache mir in letzter Zeit um vieles Sorgen.«
Khadgar wagte einen letzten Versuch. »Herr, ich glaube, dass Garona eine Spionin ist. Ich glaube, dass sie nur hier ist, um möglichst viele Informationen zu sammeln, die sie später gegen Euch verwenden wird.«
Medivh lehnte sich zurück und lächelte den jungen Mann verschmitzt an. »Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, junger Freund. Oder hast du die Liste vergessen, die deine eigenen Herren von den Kirin Tor dir mitgegeben haben? Wie viele Informationen solltest du aus mir herausholen, als du damals nach Karazhan kamst?«
Khadgars Ohren waren knallrot, als er überhastet das Zimmer verließ.
Er kehrte in seine (nun ja, Medivhs) Bibliothek zurück, wo Garona bereits seine Notizen durchging. Eine plötzliche Wut stieg in ihm auf, aber die Schmerzen von ihren Hieben und Medivhs mahnende Worte sorgten dafür, dass er sich beherrschte.
»Was tust du da?«, fragte er scharf.
Garonas Finger tanzten über das Papier. »Herumschnüffeln würdest du das wohl nennen. Spionieren?« Sie sah auf. »Eigentlich versuche ich nur zu verstehen, was du hier machst. Die Papiere lagen offen herum. Ich hoffe, es stört dich nicht.«
Und wie es mich stört , dachte Khadgar, sagte jedoch: »Meister Medivh hat mich gebeten, dich in allem zu unterstützen, aber es würde ihm wohl kaum gefallen, wenn ich in diesem Zusammenhang zulasse, dass du dich durch einen unvorsichtigen Zauber selbst in die Luft jagst.«
Garonas Gesicht blieb regungslos, aber Khadgar bemerkte, dass sie die Finger von den Papieren zurückzog. »Ich bin an Magie nicht interessiert.«
»Berühmte letzte Worte«, versetzte Khadgar. »Kann ich dir bei irgendetwas helfen, oder schnüffelst du nur allgemein herum, um zu sehen, was du vielleicht aufschnappen kannst?«
»Ich habe gehört, du hast ein Buch über die Könige von Azeroth«, sagte sie. »Ich würde es gerne lesen.«
»Du kannst lesen?«, fragte Khadgar. Es klang gemeiner, als er es beabsichtigt hatte. »Tut mir Leid, ich wollte …«
»Ja, überraschenderweise kann ich das«, erwiderte Garona schnippisch. »Ich habe über die Jahre hinweg viele Fähigkeiten erworben.«
Khadgar presste die Lippen zusammen. »Zweite Reihe, viertes Regal. Es ist ein rot eingebundenes Buch mit goldenem Rand.«
Garona verschwand zwischen den Stapeln, und Khadgar nutzte die Zeit, um seine Notizen vom Tisch zu nehmen. Er musste sie an einem anderen Ort aufbewahren, so lange die Ork sich frei im Turm bewegte. Zum Glück handelte es sich um keine Korrespondenz des Ordens. Sogar Medivh hätte wohl getobt, wenn er ihr das »Lied von Aegwynn« zugänglich gemacht hätte.
Seine Blicke fanden die Sektion, in der die Schriftrolle aufbewahrt wurde. Von hier aus schien sie unverändert zu sein. Es war nicht vordringlich, aber er sollte sie wohl ebenfalls an einen anderen Ort bringen.
Garona kehrte mit einem gewaltigen Buch in der Hand zurück und hob fragend eine ihrer buschigen Augenbrauen.
»Ja, das ist es«, sagte der Schüler.
»Die menschliche Sprache ist ein wenig … ausschweifend«, kommentierte sie die Dicke des Werkes und deponierte es auf dem freien Platz, wo eben noch die Notizen gelegen hatten.
»Nur weil wir so viel zu sagen haben«, erwiderte Khadgar und versuchte zu lächeln. Er fragte sich, ob Orks wohl auch Bücher besaßen, eigene Bücher. Lasen sie überhaupt? Sie hatten Schamanen, aber bedeutete das zwangsläufig, dass sie auch über echtes Wissen verfügten?
»Ich hoffe, ich war eben im Gang nicht zu heftig mit dir.« Ihr Tonfall war verbindlich, und Khadgar war sicher, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn er einen Zahn ausgespuckt hätte. Aber vielleicht hielt man bei den Orks so etwas schon für eine ausreichende Entschuldigung.
»Kein Problem«, sagte er. »Ich brauchte die Abwechslung.«
Garona setzte sich und schlug das Buch auf. Khadgar bemerkte, dass sie beim Lesen die Lippen bewegte und im hinteren Teil des Buchs begonnen hatte, bei der Herrschaft von König Llane.
Jetzt, da er etwas Ruhe hatte, fiel ihm auf, dass sie nicht wie die anderen Orks aussah, gegen die er gekämpft hatte. Sie war schlank und muskulös, nicht so wie die verwachsenen grobschlächtigen Bestien, die er im Lager gesehen hatte. Ihre Haut war glatt, beinahe wie die eines Menschen, und zeigte ein helleres Grün als die jadefarbene Haut normaler Orks. Ihre Zähne waren etwas kleiner, ihre Augen ein wenig größer und ausdrucksvoller als die harten roten Augen von männlichen Ork-Kriegern. Er fragte sich, wie viele dieser Unterschiede von ihrer menschlichen Seite stammen mochten, und wie viele einfach Zeichen ihrer Weiblichkeit waren. Er dachte darüber nach, ob er bereits gegen weibliche Orks gekämpft hatte – es war ihm zumindest nicht aufgefallen, und zu Zeiten der Kämpfe hatte er kein Bedürfnis verspürt, es herauszufinden.
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