Khadgar wollte erklären, dass es sich um keine Vision handelte, weil man darin komplett in eine andere Umgebung versetzt wurde, aber er schüttelte nur den Kopf.
Die Bestie stand auf der Türschwelle und hob die Nase. Flammen schlugen aus ihren Augen. War die Bestie blind, orientierte sie sich nur am Geruch? Witterte sie etwas Fremdes in der Luft, einen Geruch, den sie nicht erwartet hatte?
Khadgar versuchte die Energien in seinem Geist zu sammeln, aber sein Herz hämmerte, und seine Gedanken waren leer. Die Bestie schnüffelte weiter, bis sie den beiden gegenüberstand.
»Geh in den hohen Turm«, sagte Khadgar ruhig. »Wir müssen Medivh warnen.«
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Garona nickte, während sich ihre Blicke weiter auf die Bestie richteten. Ein Schweißtropfen lief über ihren langen Hals nach unten. Sie drehte sich leicht zur Seite.
Die Bewegung reichte aus. Alles geschah gleichzeitig. Die Bestie spannte sich an und sprang ins Zimmer. Khadgar reagierte, zog die Energien in sich hinein, hob seine Hand und stieß einen Energieblitz in die Brust der Kreatur. Die Energie bohrte sich in den Körper der Bestie und trat an ihrem Rücken wieder aus. Brennendes Fleisch flog in alle Richtungen, aber das hielt sie nicht auf.
Sie landete auf dem Tisch, ihre Klauen gruben sich in das harte Holz, dann sprang sie erneut, dieses Mal auf Khadgar zu. Der junge Magier erstarrte für eine Sekunde, aber diese Sekunde reichte dem Dämon, um die Entfernung zwischen ihnen zu überbrücken.
Etwas griff nach Khadgar und zog ihn fort. Er roch Zimt und hörte einen tiefen Fluch, als er aus dem Weg des angreifenden Dämons gerissen wurde. Die Bestie flog durch die Luft, wo eben noch der Schüler gestanden hatte, und brüllte wütend. Eine klaffende Wunde erschien in ihrer linken Seite. Brennendes Blut schoss daraus hervor.
Garona entließ Khadgar aus ihrem Griff (es war ein schwacher, menschlicher Griff, der ihm trotzdem die Luft aus den Lungen presste). In ihrer Hand sah der Schüler ein Messer, dessen lange Klinge nach dem ersten Stich rot gefärbt war. Khadgar fragte sich, wo sie die Waffe während ihres Streits versteckt gehalten hatte.
Die Bestie landete, fuhr herum und versuchte mit ausgestreckten Pranken einen zweiten, ungeschickten Angriff. Augen und Maul waren voller Flammen. Khadgar duckte sich und kam mit einem schweren roten Buch – Die Erbfolge von Azeroths Königen – wieder nach oben. Er schleuderte es der Bestie ins Gesicht und duckte sich erneut. Das Ungetüm flog an ihm vorbei und landete neben der Tür. Es stieß einen erstickt klingenden Würgelaut aus und schüttelte seinen massigen Kopf, um das Buch loszuwerden, das sich zwischen seinen Hörnern verkantet hatte. Khadgar bemerkte das Blut, das über die rechte Seite der Bestie lief. Garona hatte ein zweites Mal zugestochen.
»Hol Medivh!«, schrie Khadgar. »Ich locke ihn von der Tür weg.«
»Und was ist, wenn der Dämon mich will?«, fragte Garona, und zum ersten Mal bemerkte Khadgar Furcht in ihrer Stimme.
»Er will dich nicht«, sagte er grimmig. »Er tötet Magier.«
»Aber du …«
»Geh!«, rief Khadgar.
Er wich nach links aus, und wie er befürchtet hatte, folgte ihm die Bestie. Garona lief jedoch nicht zur Tür, sondern wich nach rechts aus und kletterte auf das hintere Bücherregal.
»Hol Medivh!«, schrie Khadgar, während er den Gang zwischen zwei Regalen entlang lief.
»Dafür ist nicht genug Zeit«, antwortete Garona, die immer noch nach oben kletterte. »Versuch ihn zwischen den Regalen aufzuhalten.«
Khadgar drehte sich am Ende des Gangs um. Der Dämon war bereits über den Tisch gesprungen und bewegte sich jetzt ebenfalls zwischen den Regalen voller historischer und geographischer Bücher. In den Schatten leuchteten die flammenden Augen der Bestie bösartiger als je zuvor. Beißender Rauch drang aus ihren verletzten Flanken.
Khadgar bemühte sich um Konzentration, kämpfte seine Furcht nieder und schoss einen mystischen Pfeil ab. Ein Blitz oder eine Feuerkugel wären vielleicht effektiver gewesen, aber die Bestie stand mitten zwischen den Büchern.
Der Pfeil traf den Dämon ins Gesicht. Er taumelte einen Schritt zurück, knurrte und kroch wieder vorwärts.
Khadgar wiederholte den Vorgang wie ein Ritual – Konzentration sammeln, Furcht bekämpfen, Hand heben und das Wort aussprechen. Ein zweiter Pfeil prallte von den Elfenbeinhörnern ab und schoss nach oben. Die Bestie zögerte nur für einen Moment. Ihre Schnauze schien sich in einem verstörenden, flammenden Grinsen zu verziehen.
Ein drittes Mal beschwor Khadgar die Macht des magischen Pfeils, doch die Bestie war bereits nah, und als der Pfeil an ihrem Gesicht vorbeischoss, erhellte er nur den überlegenen Ausdruck darin, sonst nichts. Khadgar roch saures, brennendes Fleisch und hörte ein tiefes Klicken in der Kehle der Bestie – Gelächter?
»Mach dich bereit!«, rief Garona von irgendwo rechts oben.
»Was treibst du da …?«, begann Khadgar und wich bereits zurück.
»Lauf!«, schrie sie und stieß sich mit den Füßen ab. Die Halb-Ork war bis an die Spitze der Bücherregale geklettert und drückte sie jetzt auseinander, brachte sie zu Fall wie gewaltige Dominosteine. Es krachte donnergleich, als die Regale zusammenstießen, Bücher zu Boden rutschten und das Holz alles zerquetschte, was sich in seinem Weg befand.
Das letzte Bücherregal prallte gegen die Wand und zersplitterte. Garona rutschte daran herab und blieb mit gezücktem Messer stehen. Sie versuchte etwas durch die Staubwolken zu erkennen.
»Khadgar?«, fragte sie.
»Hier«, sagte der Lehrling, der sich gegen die Wand gepresst hatte. Neben ihm ragten Eisenstangen hervor, die die Galerie über ihm stützten. Selbst für einen Menschen war sein Gesicht bleich.
»Haben wir den Dämon erwischt?«, fragte sie. Sie duckte sich, erwartete immer noch einen Angriff.
Khadgar zeigte auf einen Punkt, der eben noch das Ende der Regale gebildet hatte. Der gesamte Boden war mit Holzteilen und zerfetzten Büchern bedeckt. Aus den Trümmern ragte ein muskulöser Arm hervor, der aus schwachen Flammen und verzogenen Schatten bestand. Die eisernen Klauen hatten sich durch Rost bereits rot gefärbt, und warmes Blut floss über den Boden. Die ausgestreckte Pranke befand sich nur einen Schritt von Khadgar entfernt.
»Erwischt«, sagte Garona und ließ das Messer wieder unter ihrer Bluse verschwinden.
»Du hättest auf mich hören sollen«, sagte Khadgar und hustete sich den Staub aus der Kehle. »Du hättest Medivh holen sollen.«
»Der Dämon hätte dich zerfetzt, bevor ich auch nur zwei Schritte zurückgelegt hätte«, entgegnete die Halb-Ork. »Und wer hätte das dem alten Mann erklärt?«
Khadgar nickte und blickte auf, als ihm ein Gedanke kam. »Meinst du, der Magus hat das hier gehört?«
Garona nickte. »Er sollte bereits auf dem Weg hierher sein. Wir haben genügend Lärm gemacht, um die Toten zu wecken.«
»Und was ist …« Khadgar steuerte bereits die Tür der Bibliothek an. »… wenn es mehr als einen Dämon gibt? Komm! Rasch!«
Ohne nachzudenken zog Garona erneut ihre Waffe und folgte dem Menschen aus dem Raum.
Als sie Medivh erreichten, saß er in seinem Labor an der gleichen Werkbank, an der Khadgar ihn vor nicht mehr als einer Stunde angetroffen hatte. Das goldene Instrument, mit dem er beschäftigt war, lag in verbogenen Stücken vor ihm. Ein Eisenhammer ruhte auf einer Seite der Bank.
Medivh sah auf, als Khadgar ins Zimmer stürzte, dicht gefolgt von Garona. Der Lehrling fragte sich, ob der Magus die Ereignisse verschlafen hatte.
»Meister! Es ist ein Dämon im Turm!«, stieß Khadgar hervor.
»Schon wieder ein Dämon?«, fragte Medivh müde und rieb sich ein Auge. »Beim ersten Mal war es ebenfalls ein Dämon; beim letzten Mal war es ein Ork.«
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