Khadgars Beziehung zu der Halb-Ork hatte sich im Verlauf der Reparaturarbeiten verbessert, und wenn er ihr den Rücken zudrehte oder sie irgendwo zwischen den Regalen stand, klang ihre Stimme beinahe menschlich. Trotzdem verriet sie immer noch nicht, wen sie repräsentierte, und Khadgar behielt sie weiterhin im Auge. Er achtete darauf, welche Bücher sie las und welche Fragen sie stellte.
Er versuchte auch auf die Nachrichten zu achten, die sie verschickte oder erhielt, und ging so weit, die Gastquartiere mit Beobachtungszaubern zu versehen. Diese sollten ihm verraten, ob die Halb-Ork das Zimmer verlassen oder eine Nachricht abgeschickt hatte. Falls sie dies getan hatte, waren ihre Methoden so perfekt, dass seine Sprüche es nicht bemerkten. Das machte ihn nur noch nervöser. Wenn sie mit dem Wissen, das sie erworben hatte, irgendetwas anfangen wollte, so behielt sie es völlig für sich.
Garona blieb ihrem Versprechen treu und teilte mit Khadgar ihr Wissen über die Orks. Der junge Magier erfuhr, wie die Orks regiert wurden (durch Stärke und Kriegskunst) und in welche Clans sie sich aufteilten. Wenn die Abgesandte in Fahrt geriet, brachte sie ihre Meinung über die unterschiedlichen Clans deutlich zum Ausdruck. Ihre Häuptlinge hielt sie häufig für einfältige Narren, die sich nur für die nächste Schlacht interessierten. Aus ihren Beschreibungen der vielfältigen Clans, aus denen sich die Horde zusammensetzte, erfuhr Khadgar, dass die Hierarchien sich ständig änderten und nicht konstant blieben.
Ein großer Teil der Horde gehörte zum konservativen Bleeding-Hollow-Clan. Das war eine mächtige Gruppe, die auf zahlreiche Eroberungen zurückblicken konnte, doch ihr in die Jahre gekommener Anführer Kilrogg Deadeye schreckte seit einiger Zeit davor zurück, Leben im Kampf zu opfern. Garona erklärte, dass ältere Orks häufig pragmatischer wurden, eine Eigenschaft, die jüngere gerne mit Feigheit verwechselten. Kilrogg hatte bereits drei Söhne und zwei Enkel getötet, weil diese glaubten, sie könnten den Clan besser führen als er.
Der Clan, den man Blackrock nannte, schien ebenfalls einen großen Teil der Horde zu stellen. Sein Anführer war Blackhand, der diese Position nur deshalb einnahm, weil er jeden umbrachte, der noch hätte Anspruch darauf erheben können. Ein Teil des Blackrock-Clans hatte sich abgespalten; jeder Angehörige dieser Splittergruppe hatte sich einen Zahn ausgeschlagen und sich fortan als Black Tooth Grin betitelt. Charmant, wie Khadgar fand.
Es gab noch andere Clans: Twilight’s Hammer, der die Zerstörung liebte, und Burning Blade, der keinen Anführer hatte, sondern aus einer anarchistischen Meute bestand, die im Chaos der Horde lebte. Und es gab kleinere Clans wie die Stormreavers, die von einem Kriegermagier geführt wurden. Khadgar vermutete, dass Garona mit einem der Stormreaver in Verbindung stand, allerdings nur deshalb, weil sie sich über die Stormreaver weniger beschwerte als über alle anderen.
Khadgar machte sich so viele Notizen, wie er konnte, und stellte sie als Berichte für Lothar zusammen. Immer mehr Nachrichten trafen aus allen Teilen Azeroths ein, und es wirkte jetzt so, als dränge die Horde aus dem Schwarzen Morast nach allen Himmelsrichtungen. Die Orks, die man noch vor einem Jahr nur für Gerüchte gehalten hatte, waren jetzt überall präsent, und die Burg Stormwind mobilisierte ihre Kräfte, um sich der Bedrohung zu stellen. Khadgar hielt die schlechter werdenden Nachrichten von Garona fern, berichtete jedoch Lothar alle Details, die er erfuhr, bis hin zu Clan-Rivalitäten und den Lieblingsfarben der Clans (der Blackrock-Clan hatte zum Beispiel eine seltsame Vorliebe für Rot).
Khadgar wollte seine Entdeckungen auch Medivh mitteilen, doch der Magus war erstaunlich desinteressiert. Auch die Unterhaltungen, die der Magus mit Garona führte, wurden seltener, und mehrmals bemerkte Khadgar, dass Medivh den Turm verlassen hatte, ohne ihn darüber zu informieren. Auch wenn er anwesend war, wirkte Medivh fern. Mehr als einmal hatte Khadgar gesehen, wie er in einem seiner Sessel im Observatorium saß und in die azerothanische Nacht hinausstarrte. Er wirkte launischer, widersprach schneller und hörte weniger zu als früher.
Seine seltsame Stimmung blieb auch anderen nicht verborgen. Moroes sah Khadgar mit leidendem Blick an, wenn er die Gemächer seines Herrn verließ. Und selbst Garona sprach ihn darauf an, als sie die Karten der bekannten Welt betrachteten (die in Stormwind angefertigt wurden und sich deshalb bei Diskussionen über Lordaeron als völlig unzureichend erwiesen).
»Ist er immer so?«, fragte sie.
Khadgar antwortete stoisch. »Er hat viele Launen.«
»Ja, aber als ich ihm das erste Mal begegnete, wirkte er lebendig, engagiert und freundlich. Jetzt wirkt er eher …«
»Geistesabwesend?«
»Konfus«, sagte Garona und zog abwertend die Lippen nach unten.
Khadgar konnte nicht widersprechen. Später am gleichen Abend überbrachte er dem Magus eine Reihe übersetzter Nachrichten mit Purpursiegel, in denen dieser um Hilfe gegen die Orks gebeten wurde.
»Die Orks sind keine Dämonen«, sagte Medivh. »Sie sind aus Fleisch und Blut und somit die Angelegenheit von Kriegern, nicht von Magiern.«
»Diese Botschaften sind schlimm«, sagte Khadgar. »Das Land rund um den Schwarzen Morast wird verlassen, und Flüchtlinge strömen nach Stormwind und in die anderen Städte Azeroths. Die Streitkräfte reichen nicht aus.«
»Und so hoffen sie, dass der Wächter zu ihrer Rettung eilt. Schlimm genug, dass ich die Wachtürme am Twisting Nether hüten muss, um Ausschau nach Dämonen zu halten und all die Fehler zu korrigieren, die Anfänger begangen haben. Jetzt soll ich sie auch schon vor anderen Nationen retten? Wird man mich als nächstes bitten, Azeroth in einem Handelsstreit mit Lordaeron zu unterstützen? Solche Angelegenheiten sollten uns nicht interessieren.«
»Ohne Eure Hilfe wird es bald vielleicht kein Azeroth mehr geben. Lothar ist …«
»Lothar ist ein Narr«, murmelte Medivh. »Eine alte Henne, die überall Gefahren wittert. Und Llane ist nicht besser. Er sieht nicht, was seine Mauern zum Einsturz bringen könnte. Und der Orden, all diese mächtigen Magier haben so lange untereinander gestritten und gekämpft, dass sie keine Kraft mehr gegen einen neuen Gegner haben. Nein, mein Vertrauen, das ist nur eine nebensächliche Angelegenheit. Selbst wenn die Orks in Azeroth siegen sollten, werden sie einen Wächter brauchen, und ich werde für sie da sein.«
»Meister, das ist …«
»Ein Sakrileg? Blasphemie? Verrat?« Der Magus seufzte und strich sich über den Nasenrücken. »Vielleicht. Aber ich bin ein Mann, der vor seiner Zeit gealtert ist, und ich habe einen hohen Preis für meine ungewollte Macht bezahlt. Erlaube mir, mich gegen die Regeln aufzulehnen, die mein Leben beherrschen. Geh jetzt. Am Morgen werde ich mir deine anderen Klagelieder anhören.«
Als Khadgar die Tür schloss, hörte er Medivh sagen: »Ich habe es satt, mich um alles zu kümmern. Wann habe ich endlich einmal Zeit für mich selbst?«
»Die Orks haben Stormwind angegriffen«, sagte Khadgar. Drei Wochen waren vergangen. Er legte die Nachricht auf den Tisch zwischen sich und Garona.
Die Halb-Ork starrte auf den Umschlag mit dem roten Siegel, als wäre es eine giftige Schlange. »Es tut mir Leid«, sagte sie schließlich. »Sie machen prinzipiell keine Gefangenen.«
»Die Ork-Streitkräfte konnten dieses Mal zurückgeschlagen werden«, sagte Khadgar. »Llanes Truppen haben sie zurückgeworfen, bevor sie die Tore erreichen konnten. Den Beschreibungen nach waren es Kilroggs Bleeding Hollow und der Twilight’s-Hammer-Clan. Es schien so gut wie keine Koordination zwischen den Hauptstreitkräften zu geben.«
Garona gab wieder ihr Bulldoggen-Niesen von sich und sagte: »Twilight’s Hammer sollte man nie bei einem Belagerungsangriff einsetzen. Kilrogg wollte einen Rivalen dezimieren und hat Stormwind als seinen Amboss benutzt.«
Читать дальше