Hauk schaute zu Kernbal. Finn legte seinen Kopf zurück, um zum dunklen Rand des Tals hochzuschauen.
Lavim holte kurz Luft und stieß einen leisen, erstaunten Seufzer aus. Stanach drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie der Kender eine alte Flöte aus der Tasche zog. Pfeifers Flöte.
Nachdem er nur einen Moment gelauscht hatte, als wolle er sich über die Melodie vergewissern und an der richtigen Stelle einsetzen, hob der Kender die Flöte an die Lippen und begann zu spielen. Die granitenen Wände des Tals der Lehnsherren wurden matt und grau.
Sonnenlicht tanzte einen silbernen Fluß hinunter, und Stanach sah nicht nur das blitzende Lichterspiel, nein, er roch auch den satten, dunklen Schlamm am Ufer des Wasserlaufs und schmeckte den süßen Fluß.
Eis umhüllte die Winterbäume wie Diamanten, schmolz bei der Berührung einer Hand und glitt davon, um neue Juwelen zu bilden. Kelida legte einen Finger an die Lippen, und auch Stanach spürte die Kälte auf seinen eigenen.
Tau, der von der Sommersonne in Dunst verwandelt zum Himmel stieg, glitzerte auf Hauks Gesicht und kroch ihm wie Tränen in den dunklen Bart. Wie ein Geist oder wie der Tau, der es war, verschwand er im Sonnenlicht. Die Tränen auf Stanachs Gesicht brauchten etwas länger zum Trocknen.
Später würde er versuchen, die Melodie jenes Liedes einzufangen. Obwohl er sich erinnern und die Bilder vom Wald zurückrufen würde, den er im schattenlosen Licht strahlen sah, würde das Lied sich ihm entziehen – bis auf das halbbewußte Lachen des Windes in den Bäumen.
Lavim hockte sich hin und sah zu, wie Hauk, Kernbal und Finn die letzten Grabsteine über Tyorl zurechtrückten. Der Klang dieser traurigen Arbeit hallte hohl durch das Tal.
»Ich wollte sie nicht zum Weinen bringen«, flüsterte der Kender.
So, Zauberer? Pfeifers Stimme war sehr sanft. Was wolltest du denn dann?
»Ich wollte nur ein Lied spielen, das sie an Tyorl erinnert.« Er seufzte und schüttelte den Kopf, als er dem Wind lauschte, der jetzt nur noch ein Lufthauch war. »Und… und ich weiß, daß Stanach den Hügel hier ganz alleine gebaut hat und daß Hornfell gesagt hat, er könnte mit Königen und Lehnsherren begraben werden. Aber ich fand es irgendwie traurig, daß Tyorl nicht mehr in seinen Wäldern sein würde. Ich wollte, daß sie sich um seinetwillen an Qualinesti erinnern.«
Und das werden sie. Du hast ein schönes Lied erfunden, Lavim.
Jetzt runzelte Lavim die Stirn. »Wirklich? Ganz alleine? Waren das nicht du oder die Flöte?«
Wer hatte die Idee?
»Ich.«
Dann war es doch dein Lied?
Er hatte ganz alleine gezaubert! Lavim sprang mit großen Augen auf. »Pfeifer! Habe ich – «
Psst, Lavim! Es ist noch nicht vorbei. Schau noch einen Augenblick ruhig zu. Und dann tu genau das, was ich dir sage. Sturmklinge sang das hohe Lied des Stahls, als Hornfell das Königsschwert aus der Scheide zog. Obwohl das letzte Licht aus dem Tal der Lehnsherren gewichen war, glühte das rote, stählerne Herz der Klinge. Das Licht von Reorx’ Schmiede pulsierte sanft und legte seinen roten Schein über die Gesichter der Anwesenden, die am fertigen Grabhügel standen.
Wie blutige Schatten, dachte Stanach.
Gebannt vom hellen Glanz des Königsschwerts, bei dessen Fertigung er geholfen hatte, erinnerte er sich plötzlich an das Glück, das er dabei empfunden hatte, das Versprechen seines glühenden Herzens und die Hoffnung, für die es stand. Da dachte Stanach weiter.
Überhaupt keine blutigen Schatten, obwohl Reorx weiß, daß genug Blut für Sturmklinge vergossen wurde. Blutige Schatten wären kalt wie der Tod. Das Licht des Königsschwerts strahlte hell in der Finsternis dieser Ruhestätte.
Wie eine Laterne in der Hand eines tapferen Mannes. Genau so.
Hornfell erhob Sturmklinge, und nicht einmal der Schatten von Dunkans Grab konnte sein Licht verdunkeln.
Der Wind kam zum Schweigen. Diejenigen, die bei Tyorls Grab standen, hoben ihre Köpfe ein wenig, als ob sie alle gleichzeitig etwas in der Stille wahrnahmen.
Stanach hörte Lavim vor überraschtem Entzücken nach Luft schnappen.
Hornfell berührte mit der leuchtenden Klinge im Soldatengruß den größten Stein des Hügels. Als die Spitze am Stein lag, schien sie aufzuleuchten und die Dunkelheit zu durchdringen. Genau da brach Lavim in freudiges Jauchzen aus. »Natürlich! Natürlich!« schrie der Kender. Kelida blieb der Mund offen stehen. Stanach drehte sich abrupt um, um den Kender zu ergreifen und zum Schweigen zu bringen. Lavim duckte sich rasch und geschickt weg und sprang um Tyorls Grabmal zu Hornfell.
»Ich weiß, wo er ist! Ich weiß, wo er ist! Pfeifer hat es mir verraten! Er hat es schon die ganze Zeit geahnt, seit Ihr Euer Schwert zurück habt. Ich wollte ihn ja gleich holen, aber er hat gesagt, nein, er wäre noch nicht sicher. Es hat ihn irgendwie gejuckt, sagt er. Aber er mußte warten. Erst als er hier war, wußte er es. Er sagt, er war schon einige Male in diesem Tal, aber da hat er noch gelebt und konnte die Dinge nicht so klar sehen wie jetzt, wo er tot ist. Ihr werdet es niemals glauben! Hornfell – Sir! Ich weiß, wo er ist!«
Finn erwischte den alten Kender an den Schultern und hob ihn einfach in die Luft. »Verdammter Kender! Was soll das? Kannst du uns nicht einmal jetzt einen Augenblick Frieden gönnen?«
Hornfells Augen lagen immer noch auf dem Königsschwert, dessen Licht zusehends verblaßte; er wies den Anführer der Waldläufer an, Lavim loszulassen. »Was, Lavim? Du weißt, wo was ist?«
Lavim entschlüpfte Finn. Er sah Hornfell an, wobei sein Grinsen fast sein Gesicht entzweiriß. »Pfeifer hat es mir gesagt. Ich weiß, wo er ist. Ich hätte es Euch schon früher erzählt, aber ich wußte nicht so recht, wovon er redete. Er sagte, daß diese ganze Sache mit der Regentschaft nichts für Euch wäre. Ich sagte, daß ich davon nichts wüßte, aber daß Ihr wirklich nicht wie einer ausseht, der auf die Theke aufpaßt, während der Wirt zum Essen geht. Er hat gesagt, ich sollte Euch raten, Sturmklinge heute abend mitzubringen, und dann würde er ihn mir zeigen, weil das Königsschwert wissen würde, wo er ist. Und ich habe gesagt, klar, mach ich – «
Wie Spinnenbeine krabbelte die Vorahnung Stanachs Rückgrat hoch. Isarns letzte Worte stiegen in seiner Erinnerung auf. »Lavim!« schimpfte er. »Raus damit!«
Erschrocken sprang Lavim hoch und drehte sich zu Stanach um. »Ich versuche gerade, Hornfell etwas wirklich Wichtiges zu erzählen, alter Junge. Ich möchte wenigstens einmal ausreden können, ohne daß man mich unterbricht. Also«, er redete wieder mit Hornfell, »wo war ich? Ach ja. Ich weiß, wo der Streithammer von Kharas ist.«
Hornfell, dessen Hand immer noch an Sturmklinges Griff lag, starrte den Kender mit einer schmerzhaften Mischung aus Unglaube und Hoffnung an. »Wo?« flüsterte er.
»Oh, gar nicht weit von hier.« Lavim lachte. »Überhaupt nicht weit. Ihr müßt natürlich jemanden hinschicken, um ihn zu holen. Ein paar Leute wahrscheinlich, denn Ihr wißt ja, daß Kharas ihn wirklich gut versteckt hat. Er hat ihn unsichtbar gemacht und mit allen möglichen Fallen und Zaubern beschützt, weil er nicht wollte, daß ihn irgendjemand einfach so findet. Er wollte, daß ihn nur ein richtiger Hochkönig finden kann. Jemand wie Dunkan, wißt Ihr. Jemand wie Ihr.«
»Wo?« flüsterte Hornfell wieder. Lavim lächelte und zeigte senkrecht nach oben. Hornfell sah zum Himmel hoch. Stanach folgte Hornfells Blick und starrte die ersten Sterne an, besonders den roten Stern, den die Zwerge den Funken von der Esse nannten.
Nein, dachte er, ach Lavim, was hast du denn jetzt wieder im Sinn?
Kelida folgte Lavims Richtung genauer, hielt den Atem an und berührte Stanach am Arm. Hauk nickte grinsend.
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