Langsam wie Gletschereis in der Sonne wich das Entsetzen der Drachenangst, und die Dunkelheit löste sich wie Rauch im Wind auf. Nachtschwarz war tot!
Nach Luft schnappend sah sich Stanach augenblicklich nach Hornfell um.
Hauk bellte eine Warnung. Stahl klirrte auf Stein, und Stanach fuhr herum. Da stand Hornfell unbewaffnet und mit dem Rücken zu dem brennenden Tal. Realgar, dessen dunkler Mantel im Wind flatterte und dessen irre Derro-Augen feurig glühten, hielt Sturmklinge locker in der Hand.
»Das Feuer«, flüsterte er, »oder das Schwert? Sturz oder Stahl?«
Hornfells tödliche kalte und beherrschte Miene ließ Stanach zurückschrecken. »Gewähr mir den Stahl«, sagte er zu Realgar und krümmte den Finger in einer spöttischen Geste, als wolle er sagen ›Komm schon‹. »Mal sehen, ob es dir gelingt.«
Realgar faßte das Königsschwert fester und senkte Sturmklinge. Unter dem Vorwand, sich besser hinzustellen, schwang er es nach Hornfells Kehle.
Stanach warf sich in dem Moment auf Realgar, als Hornfell sich tief duckte und unter seiner Deckung hindurchtauchte. Beide trafen den Theiwar gleichzeitig; Stanach oben, wo er mit der Linken nach seinem Handgelenk griff, Hornfell unten, womit er ihn hart auf den Felsen warf.
Ein Ellbogen traf Stanach am Kiefer und ließ ihn stürzen. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Der Theiwar, der Sturmklinge immer noch in seiner Faust hielt, versuchte, sich Hornfells Griff durch harte Tritte zu entwinden. Stanach fühlte den Stiefelabsatz wie einen Blitz an seinem Kopf auftreten und hörte den Tritt wie einen Donnerschlag. Fast augenblicklich rissen zwei große, starke Hände Stanach auf die Beine. Mit wachsweichen Knien versuchte er erneut, sich aus Hauks Griff zu befreien.
»Kein Platz«, sagte Hauk, während er Stanachs Arme hinter ihm festhielt. »Keine Zeit.«
Realgar hatte sich von Hornfell befreit. Jetzt warf er sich mit erhobenem Schwert auf den Lehnsherrn der Hylaren, wobei er das Königsschwert schwang, als wäre es eine Axt. Hornfell rollte sich zum Berg zurück und warf sich nach links. Mit einem hellen, knirschenden Geräusch traf der Stahl auf den Stein. Realgar kam durch den Schlag ins Taumeln, schlug noch einmal daneben und wankte zum Rand der Klippe. Hornfell knurrte leise und stieß dann einen wütenden Fluch aus.
Wacklig stand Realgar genau am Rand und umklammerte Sturmklinge mit der rechten Hand. Stanach sah das entsetzte Erstaunen aus den Augen des Derro-Zauberers schreien, als seine Füße am bröckelnden Fels abrutschten.
Heftig keuchend sprang Hornfell nach Realgars Arm und erwischte ihn mit beiden Händen. Das Gewicht des zappelnden Magiers ließ ihn auf dem Fels in die Knie gehen. »Laß los!« rief Hauk.
Obwohl Realgars volles Gewicht an ihm hing, biß Hornfell die Zähne zusammen und zog. »Laß los!« flüsterte Stanach.
Hornfells Griff löste sich. Seine Hände rutschten an Realgars Arm zu seinem Handgelenk hoch, und seine Finger berührtem Sturmklinges Heft genau in dem Moment, als Realgar seinen Kopf zurückwarf und schrie. Der Zauberer fiel, und Hornfell warf sich vor, um Sturmklinge zu retten.
Der Stahl blitzte, während Hornfell ihn vor dem Fall bewahrte.
Stanach schloß die Augen. Er mußte beißende Tränen hinunterschlucken. Einen Augenblick lang wußte er nicht, ob sein Herz sich vor Freude oder vor Trauer zusammenzog.
Jetzt lagen nicht mehr Hauks Hände auf Stanachs Armen, sondern Lavims. Hauk war zu Hornfell geeilt. Immer noch taumelnd nach dem Tritt des Theiwars sah Stanach sich verwirrt nach dem Kender um. Lavim sagte etwas, aber Stanach begriff es nicht.
»Langsam«, flüsterte der Zwerg rauh. »Langsam, Lavim.« Lavim zog an Stanachs linker Hand. »Komm jetzt, Stanach«, drängte er. »Du mußt jetzt mitkommen.«
Der Zwerg sagte kein Wort. Er hatte keine Kraft mehr, um mit Lavim zu streiten, und ging deshalb einfach mit. Er hörte Kelidas leise, ängstliche Stimme. Als er sich nach ihr umsah, verschwamm das Bild.
An der offenen Tür von Nordtor entdeckte er sie, wo sie neben Tyorl kniete, um ihn zu stützen. Ihr graues Lederhemd war dort, wo sie verletzt worden war, zerrissen. Sie sagte etwas zu Lavim, und der Kender lief mit blassem, runzligem Gesicht zum Tor und schrie nach Kern.
Von dort, wo er stand, konnte Stanach Kelidas kummervollen Gesichtsausdruck und das Zittern ihrer Hände sehen, als sie die Finger an Tyorls Hals legte und nach seinem Puls tastete, der – falls es ihn noch gab – nur schwach sein konnte. Zu viel Blut tränkte die Lederkleidung des Elfen.
Er hörte Hauks Stimme hinter sich. Stanach drehte sich um. Hauk starrte auf Sturmklinge, das in Hornfells Hand lag.
Langsam legte Hornfell das Schwert neben Tyorl. Der haßerfüllte Blick, den Hornfell kurz auf das Königsschwert warf, ließ Stanachs Herz vor Kälte zittern. Die Saphire auf Sturmklinges Heft fingen das schwindende Licht ein. In der Tiefe der flachen Klinge pulsierte das Feuer von Reorx’ Schmiede.
Wortlos nahm Hauk Lavims Platz ein und legte Tyorl seine zitternden Finger auf den Arm. Seine Lippen bewegten sich stumm, als sie den Namen des Freundes wiederholten, der so weit gewandert war, um ihn aus Realgars Folterkammer zu retten. In Hauks Augen stand die tiefste Trauer, die Stanach je gesehen hatte.
Zaghaft berührte er Kelida an der Schulter. »Lyt Chwaer.« Er hockte sich neben sie.
»Ich habe Lavim zu Kernbal geschickt.« Ihre Stimme brach vor Trauer. »Es wird nichts mehr helfen. Tyorl wird sterben. Stanach.«
Stanach legte die Arme um sie, um sie zu stützen, solange sie Tyorl hielt. »Es tut mir leid«, murmelte er.
Kelida lehnte sich an seine Schulter und verbarg ihr Gesicht in seinem dicken, schwarzen Bart.
Stanach streichelte ihre Schulter, und sein Blick begegnete dem von Hauk. Die Ungläubigkeit in den Augen des Waldläufers, als er zu begreifen versuchte, daß sein Freund wirklich starb, ließ ihn plötzlich sehr jung wirken.
Tyorl bewegte sich. Seine Lippen bewegten sich, als wenn er etwas sagen wollte. Dann glitt seine Hand in Kelidas, und sie wandte sich ihm zu. In ihren grünen Augen glitzerten Tränen. Vorsichtig, um ihm keine Schmerzen zu bereiten, beugte sich Kelida vor und küßte ihn sanft.
»Ach«, hauchte Tyorl, »du hast mir schon einmal einen Abschiedskuß gegeben – in Langenberg.« Er hob die Hand und strich ihr durchs Gesicht und durchs Haar. »Kelida.«
Stanach merkte, wie sie Tyorls fallende Hand ergriff. Kelida schluchzte, und Stanachs Herz schmerzte vor stummer Trauer.
Sturmklinges Stahl hatte Tyorl getötet.
Sturmklinge. Königsschwert aus Bruchstücken der Dämmerung mit einem Mitternachtsstern.
Obwohl es ihm gehörte, hatte Hornfell sich das Schwert seit dem Kampf vor drei Tagen in Nordtor noch nicht an die Hüfte geschnallt. Obwohl die Zwerge von Thorbardin ihn – teils überglücklich, teils skeptisch – als Regenten anerkannt hatten, würde er sein Amt erst in sieben Tagen antreten. Es wäre unpassend, das Königsschwert schon vorher zu tragen.
Hornfell hob den Deckel der Vitrine, in der Sturmklinge lag. Der mit rauchfarbenem Samt und rotschimmerndem Satin ausgepolsterte Kasten enthielt die Königsschwerter der Hochkönige von Generationen.
Jetzt enthält er das eines Prinzregenten, dachte er, und zwar hier in der Halle der Lehnsherren, gut bewacht, aber für alle zugänglich, die es sehen, bewundern und bestaunen wollen.
Sie waren gekommen, als wollten sie den Segen einer Reliquie erbitten. Die Halle der Lehnsherren war noch nie so streng bewacht gewesen wie in diesen letzten beiden Tagen. Leibgarden aus jeder der sechs Zwergenstädte standen Tag und Nacht rund um die Uhr gemeinsam Wache.
Hornfell trat von der Truhe und dem langen Schaukasten zurück, der jedesmal, wenn er ihn ansah, mehr einer Bahre glich. Er fragte sich, ob je ein Königsschwert so teuer erkauft worden war wie Sturmklinge.
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