Tyorl zog sich hoch, wobei er sich die ganze Zeit schwer auf Lavims Schulter stützte. Er hatte Männer gesehen, die das taten, die auf die Beine kamen, während sie eigentlich kaum fähig waren zu atmen. Damals hatte er sich gefragt, wie sich das wohl anfühlte. Jetzt wußte er es. Sein Blut tropfte aus der tiefen Schwertwunde in seinem Bauch.
Alles war in einem einzigen Moment geschehen. Die Wut des Kampfes hatte einen wahnsinnigen Höhepunkt erreicht, als rotsilbern uniformierte Daewars in die große Halle und das Torhaus strömten. Tyorl, der wieder seinen Platz auf dem Tormechanismus eingenommen hatte, hatte Realgar gesehen, der Sturmklinge in Hornfells ungeschützten Rücken stoßen wollte. Ihm blieb keine Zeit mehr, die Armbrust zu spannen. Der Elf hatte sich bewegt, ohne nachzudenken.
Tyorl hatte sich zwischen Realgar und Hornfell geworfen. Sturmklinge war wie eine heiße Nadel durchs Eis in ihn eingedrungen, und es hatte wie Feuer gebrannt, als Realgar den Stahl zurückriß. Nun fühlte er keine Schmerzen mehr, und das verriet ihm noch eher als die leblose Kälte, daß er starb.
Und was tat Drachenangst einem Sterbenden?
»Die… die Armbrust«, forderte er flüsternd.
Lavim schluckte hörbar. »Tyorl, ich finde nicht, daß du – «
»Bitte. Hilf mir jetzt, Lavim.«
»Nein, Tyorl! Du mußt hier auf Kern warten.« Verzweifelte Hoffnung brach die Stimme des Kenders. »Er wird dir helfen. Du wirst sehen. Du wirst sehen, Tyorl.«
Tyorl lehnte seinen Kopf an die Steinwand und stützte sich an die Felswand. Bei diesen kleinen Bewegungen wurde ihm nur noch kälter. Er fuhr mit der flachen Hand über Pfeifers Flöte, die immer noch an seinem Gürtel hing.
Lavim hatte mal behauptet, daß Pfeifer seine Gedanken lesen konnte. Tyorl umklammerte die Flöte.
Pfeifer, dachte er, sag ihm, daß er mir helfen soll. Ich kann den Drachen töten, wenn er mir nur hilft. Pfeifer…
Mach, was er sagt, Lavim. Mach es.
Als er Lavims heftige Widerworte hörte, griffen Tyorls Finger so fest um die Schulter des Kenders, daß seine Knöchel weiß hervortraten. »Bitte!«
Selbst als er Tyorl die Armbrust aushändigte, protestierte Lavim immer noch: »Tyorl, du mußt hierbleiben. Du mußt auf Kern warten. Er ist jetzt bei Kelida – «
»Kelida!« flüsterte Tyorl. »Lavim, wird sie durchkommen?«
Lavim nickte nachdrücklich. »Keine Probleme. Sagt Kern. Bitte, Tyorl, bitte laß mich dir helfen, dich hinzusetzen, bis er herkommen kann.«
Tyorl stützte sich wieder auf Lavims Schulter.
»Hilf mir auf den Sims.«
»Nein, Tyorl!«
Der Schmerz drängte langsam in sein Bewußtsein. Noch spürte Tyorl ihn nicht, aber er jagte ihn wie ein gnadenloser Wolf.
Pfeifer, sag’s ihm.
Tyorl sah zu, wie der Kender mit gesenktem Kopf zuhörte, während Pfeifer lautlos mit ihm sprach.
Lavim. Es ist wie da, wo du Kelida helfen mußtest, Stanachs Finger zu richten. Ich weiß, daß du nicht willst, aber du mußt. Es bleibt keine Zeit zum Diskutieren. Mach, was er sagt.
»Aber was sollen wir denn machen? Er muß hierbleiben! Er muß auf Kern warten! Pfeifer…!«
Die Stimme des Kenders verebbte und verlief sich im Heulen des Windes. Tyorl lehnt mit dem Rücken an der Felswand, und er wußte nicht, wie er aus dem Tor kommen sollte. Sanft hielt Lavim ihn mit seinen bebenden, verschrumpelten Händen aufrecht. Die Kälte des Felsenpfades wirkte direkt warm im Vergleich zu der Leere, die ihn erfüllte.
Nah, und doch scheinbar so fern, traf Stahl auf Stahl. Schwärze hüllte den Sims ein. Fern wie uralte Erinnerung regte sich die Höhenangst in Tyorls Herz. Doch sie flüsterte nur. Da er die Drachenangst nicht spürte, fühlte er auch das Klammern und Zerren der Höhenangst nicht.
»Lavim, leg den Bolzen ein.«
Er hörte, wie Lavim die Armbrust hinlegte und vor Anstrengung grunzte, als er die Sehne zurückzog. Der schwarze Drache schrie schriller als der Wind, als er hochflog, um erneut am Sims vorbeizurauschen.
Hauks Stimme erhob sich barsch und voller Angst: »Stanach! Er kämpft blind!«
Stahl klirrte. Stiefel scharrten über Stein.
Tyorl machte die Augen auf, als er merkte, wie ihm die Armbrust wieder in die Hand gedrückt wurde.
Ich kann in dieser Dunkelheit nichts sehen!
»Pfeifer kann«, flüsterte Lavim. »Alles in Ordnung.«
Lenke mich!
»Das tut er – «
»Hast du die Armbrust richtig geladen?«
»Natürlich, Tyorl.«
Der Elf holte kurz Luft und versteifte sich, als der Schmerz ihn schließlich doch noch fand. Ein gewaltiger Windstoß fuhr durch die Dunkelheit. Kreischend vor wilder, schrecklicher Kampflust schoß der Drache herab. Vorhin waren die Arme des Waldläufers so schwer gewesen. Jetzt waren sie leicht. Fast ohne zu wissen, daß er die Armbrust hob, überließ sich Tyorl Pfeifers Anweisungen. Er war bereit, auf einen Drachen zu schießen, den er nicht einmal sehen konnte.
Der Angstspruch von Nachtschwarz lastete tödlich schwer auf Stanachs Herzen. Hornfell war blind in der magischen Dunkelheit, und irgendwoher nahm er den Mut, sowohl die Drachenangst als auch seinen gnadenlosen Gegner zu bekämpfen. Blind für Sturmklinge und den Mörder, der es schwang. Blind für den Rand einer dreihundert Meter tiefen Klippe!
Ohne daran zu denken, daß er sich unter der lähmenden Schwere der Drachenangst eigentlich kaum regen konnte, riß sich Stanach aus Hauks Griff los.
Schwindelig und orientierungslos und mit schmerzendem Kopf, weil seine Augen sehen wollten, wo es nichts zu sehen gab, zwang Stanach sich zum Innehalten. Er, der an Orten sehen konnte, wo niemals Licht hingelangte, war blind.
Indem er die bitterkalte Luft tief in seine Lungen einsog, gelang es Stanach, das Schwindelgefühl zu bekämpfen. Er lauschte angestrengt und stellte augenblicklich fest, daß er die Kämpfer durch ihr rauhes Keuchen und die klirrenden Schwerter orten konnte.
Irgendwo unter dem eisigen Himmel flog der Drache. In stürmischen Wellen peitschte die Angst immer wieder durch seine Sinne. Doch Stanach konzentrierte sich ausschließlich auf die Kampfgeräusche, und langsam kroch er vorwärts und betete um einen Hinweis, welcher von den Kämpfern Hornfell war und welcher Realgar.
Das Summen einer Klinge tönte durch die Dunkelheit. Lose Steine prasselten auf den Boden, und Stanach hörte einen Stiefel über den Stein rutschen und ein kurzes Stöhnen.
Dann hörte Stanach das tiefe, vibrierende Surren eines fliegenden Armbrustbolzens.
Sie waren gar nichts, der Elf und der Kender auf dem Sims. Kaum genug, um seinen Appetit anzuregen. Jedenfalls würden sie höchstens Nachtschwarz’ Verlangen nach Grausamkeit stillen können. Diese Grausamkeit wurde zu gerechtem Zorn, als der Drache die Armbrust in den Händen des Elfen sah.
Wollte dieser Winzling ihm mit seinem Spielzeug etwa ernstlich etwas anhaben?
Nachtschwarz legte die Flügel an und bäumte sich auf, wobei er die Vorderbeine nach dem Elf auf dem Sims ausstreckte und vor Lachen kreischte, als er vorschoß.
Er hörte das Summen der Armbrustsehne nur als leisen Luftzug. Der Bolzen mit seiner Stahlspitze bohrte sich wie ein silberner Blitz in sein linkes Auge, und der Kampfschrei des schwarzen Drachen ging in ein gequältes Kreischen über. Erst war er nur überrascht, dann überfiel ihn die Panik des Todes, als seine Flügel von einem Aufwind gepackt wurden und heißes Feuer sein Rückgrat entlanglief. In dem Moment, als der Drache den Schmerz wahrnahm, schwand jedes Gefühl aus seinem Riesenkörper.
Mit dem Echo seines eigenen Todesschreis in den Ohren fiel Nachtschwarz tief hinab in das brennende Tal.
Der Schrei des Drachen durchbrach Stanachs Blindheit wie Feuer die Dunkelheit, als er in zahllosen, heulenden Echos von den Bergwänden zurückgeworfen wurde.
Читать дальше