Stanach scheute die Erinnerung an das Wiedersehen mit seinen Eltern und Freunden. Er wollte nicht an ihr Entsetzen angesichts seiner verkrüppelten Hand denken oder an die Art, wie sie ihn ansahen, wenn sie erkannten, daß er nicht mehr der ruhige, friedfertige Schmied war, der sie vor wenigen Wochen verlassen hatte.
Er war in der Außenwelt gewesen, und er war verändert nach Hause gekommen. Der Unterschied hatte nichts mit seiner Verletzung zu tun. Er hatte mehr mit dem Fremden zu tun, den sie in seinen Augen sahen. Er war anders; er trug Narben, und seine dunklen Augen hatten fernere Horizonte geschaut, als die meisten Zwerge je gesehen hatten.
Der Wind brauste kalt und schneidend durch das Tal der Lehnsherren. Dieses Tal war der einzige Teil von Thorbardin, der unter freiem Himmel lag. In alten Zeiten war hier eine Höhle gewesen. Eines Tages war sie eingestürzt, und aus dem Krater war ein Tal geworden, in dem ein kleiner See und sorgsam gepflegte Gärten lagen. Am Rand des Tals fand man die Gräber von einfachen Leuten. In den Gärten standen die Grabmale von Lehnsherren und Hochkönigen.
Das Tal der Lehnsherren war nicht nur der Ort, wo die Zwerge ihre Toten bestatteten, sondern auch der Ort, wo sie – die Magie gegenüber normalerweise sehr mißtrauisch waren – sich an der Kunst der Zauberei erfreuten. Hoch über dem See schwebte Dunkans Grab. Nichts als der Spruch eines längst verstorbenen Zauberers hielt ihn dort.
Hier war Dunkan einbalsamiert, der letzte Hochkönig der Zwerge. In den dreihundert Jahren seit seinem Tod hatte kein neuer Hochkönig in Thorbardin regiert. Und trotz der Opfer, die die Suche nach Sturmklinge gefordert hatte, würde kein neuer Hochkönig mehr in Thorbardin herrschen. Kharas, Dunkans Freund und Held, hatte seinen Streithammer durch Magie und mit Hilfe des Gottes, der ihn gemacht hatte, versteckt. Seither hatte ihn niemand gefunden.
Hornfell würde Hochkönig sein, hatte Isarn gesagt.
Stanach schüttelte den Kopf. Nein, Hornfell würde nicht den Thron des Hochkönigs besteigen. Er war Prinzregent, obwohl Reorx wußte, daß er das Königreich wie ein richtiger König regieren würde. Das mußte reichen.
Stanach lehnte sich an den Steinhaufen und fuhr mit dem Ärmel über sein Gesicht. Schweiß und Dreck verschmierten das lockere, weiße Schmiedehemd, das er trug. Er würde nie wieder vor einer Esse stehen, aber er kannte keine bequemere Kleidung als dieses alte Hemd und die braunen Lederhosen, die er einst bei der Arbeit in der Schmiede getragen hatte. Es hätte durchaus Leute gegeben, die diesen Grabhügel an seiner Stelle errichtet hätten, Steinmetze und Totengräber, die das beruflich taten. Aber Stanach wollte Tyorls Grabhügel allein aufschichten.
Bei Pfeifers Grab auf dem einsamen Hügel bei Qualinesti hatte Tyorl gesagt: Du hast ja reichlich Übung. Deine Freunde scheinen nicht sehr lange zu leben, Stanach. Wie viele Hügelgräber hast du gebaut, seit du Thorbardin verlassen hast?
Damals hatte Kelida auf dem Hügel Wache gestanden und hatte leise Einspruch erhoben gegen die grausamen Worte des Elfen. Stanach hatte es damals nicht grausam gefunden und fand es auch heute nicht grausam. Nur wahr.
Die Lippen des Zwergs verzogen sich zu einem traurigen Lächeln. Pfeifers Grab war sein allererstes gewesen. Tyorls würde das zweite sein.
»Und das letzte«, flüsterte er. »Doch, Tyorl, das letzte. Auch wenn ich nie gedacht hätte, daß es deins sein würde und noch dazu hier im Tal der Lehnsherren, im Schatten des Grabmals eines Hochkönigs.«
Der Wind heulte schrill. Stanach dachte an Pfeifers Flöte. In Thorbardin wurde getrauert, und das auch um den Magier Jordy, den die Kinder Pfeifer genannt hatten.
Lavim beharrte immer noch eisern darauf, daß Pfeifer mit ihm redete, obwohl er tot war. Zumeist belehrend oder scheltend flüsterte er mit Lavim, behauptete der Kender.
Stanach wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er wollte nicht an Geister glauben. Pfeifer war tot. Er hatte ihn begraben, so wie er jetzt Tyorl begraben würde.
Zu siebt versammelten sie sich im dünnen Schein des Zwielichts im Schatten von Dunkans Grab im Tal der Lehnsherren, um Tyorl die letzte Ehre zu erweisen.
Daß Tyorls Grabhügel in den Gärten errichtet wurde, zeigte das Ausmaß von Hornfells Dankbarkeit dem Elf gegenüber, der für ihn gestorben war. Das war bis dahin unantastbares Vorrecht der Lehnsherren und Könige gewesen. Und es war ein weiteres Zeichen seines großen Respekts, daß er Tyorls Grabrede halten wollte.
Warum, fragte sich Stanach, brachte Hornfell Sturmklinge mit ins Tal der Lehnsherren?
Immer noch verschmiert und schwitzend sah Stanach zu, wie Kelida neben Hauk ihren Platz am Grab einnahm. Der Zwerg lächelte zum ersten Mal wirklich. Die beiden waren erst wenige Tage zusammen, und schon bewegten sie sich so vertraut, als würden sie sich seit Jahren kennen.
Kernbal und Finn trugen Tyorls Körper ins Tal und legten ihn in das Grab, das Stanach vorbereitet hatte. Dunkelheit umfing die sterblichen Reste des Freundes. Die Waldläufer stellten sich neben Hauk. Sie waren die Letzten aus der Alptraum-Truppe und kamen, um einem Bruder Lebewohl zu sagen.
In stillem Respekt vor den hier versammelten Freunden berührte Hornfell mit Sturmklinges Spitze wie zum Gruß die Erde und lehnte das Königsschwert an die Steine, bevor er seinen Platz am Fußende des Grabs einnahm. Lavim, dessen grüne Augen still und ernst waren, stellte sich zu Stanach. Der Zwerg hoffte, daß er jetzt nicht anfangen würde, über Geister zu reden.
Lavim klopfte Stanach zaghaft auf die Schulter. »Hast du das alles gemacht?« Stanach nickte finster.
»Das ist sehr schön«, flüsterte er. Er zeigte auf Dunkans Grab. »Aber der Schatten von dem riesigen, schwebenden Ding da oben ist im Weg, nicht wahr? Pfeifer sagt, das ist Dunkans Grab und – «
Stanach schloß die Augen. »Psst, Lavim. Nicht jetzt.« Der Wind pfiff kalt durch das Tal der Lehnsherren. Sein Lied war für die am Grab Versammelten keine Störung, sondern eine Unterhaltung.
Als Hornfell sprach, zitierte er die Weisheit des Sprichworts, das ihm an der Mauer von Nordtor aufgefallen war, als hinter seinem Rücken die Revolution brodelte und zu seinen Füßen das Guyll Fyr tobte.
»Der Wolf vor der Tür«, sagte er sanft, »macht aus Fremden Brüder. Der Wolf hat vor Thorbardin geheult und zugeschnappt, und wir haben zu lange unsere Türen vor ihm verriegelt und so getan, als wäre kein Wolf da, bloß weil wir ihn nicht hören wollten.
Jetzt hören auch wir sein Heulen, das wir zu lange mißachtet haben. Wir hören es in der Klage der Familien der Gefallenen und in den Schreien derer, die in den Klauen des Krieges gefangen sind.
Wir hören das Heulen des Wolfes im Wind der Drachenflügel. Tyorl hat es kurz zum Schweigen gebracht, aber wir werden es wieder hören.«
Hornfell schaute nacheinander jeden Anwesenden an.
»Aber wir sehen auch. Wir sehen Brüder, wo wir einst Fremde sahen. Wir sehen Verwandte, die nicht zu unserer Art gehören. Und von diesen Verwandten haben wir uns zu lange abgewendet, obwohl sie versuchten, das blutrünstige Heulen des Wolfes zum Schweigen zu bringen, während wir darauf warteten, daß er fortginge, um anderswo zu jagen.
Der Wolf wird nicht davonziehen. Verminaard zieht immer noch durch unser Land, und der Krieg wird erst vorüber sein, wenn er alles und jeden ausgelöscht hat. Wie er Tyorl ausgelöscht hat.
Ich trauere mit euch um den Verlust eines Freundes.«
Ganz in seiner Trauer um Tyorl und in eine alte Totenklage versunken, bemerkte Stanach nicht, daß Hornfell fertig war. Dann fühlte und hörte er irgendwann etwas Neues im Lied des Windes. Er sah zur anderen Seite des Grabes. Dort stand Kelida. Sie hatte den Kopf geneigt, so daß das letzte Licht sich in ihren roten Haaren fing, und sie schien die Veränderung ebenfalls bemerkt zu haben.
Читать дальше