»Kein Sterbenswörtchen darüber, Wiesel«, wisperte der Rabe. »Oh, nein, kein Wort. Denn Sir Bayard ist jetzt schon gegen dich eingenommen, und Sir Robert kommt um vor Gram. Ich bin dir natürlich… unendlich dankbar für deine Unterstützung. Das würde mich allerdings nicht davon abhalten, dir die Augen auszupicken und sie zu fressen oder – was sagte ich so schön in der Wasserburg – dir die Haut vom Leibe zu ziehen? Oder Schlimmeres, oh, ich versichere dir, noch viel Schlimmeres, wenn du je mein Vertrauen enttäuschst.
Außerdem, kleiner Herr Galen, sind wir ja schließlich verschworene Partner, nicht wahr? Und ich habe vielleicht noch mal Verwendung für dich.«
Ich hatte keine Ahnung, was der Skorpion damals mit mir im Sinn hatte, welche heimtückische Rolle er mir in den nächsten Tagen zugedacht hatte. Ganz sicher hatte er mir mehr erzählt, als klug für ihn war, falls er nur vorhatte, das Mädchen zu heiraten und mich in Ruhe zu lassen.
Da kam Brithelm ins Zimmer, der ein Tablett mit Essen auf dem Kopf trug, und der Vogel flog los und knallte gegen das dicke Glas der Fensterscheibe, so daß er auf das Fensterbrett fiel und dunkel und regungslos im schwachen Licht des roten Mondes liegenblieb.
Dieses eine Mal war ich glücklich, daß Brithelm nie daran dachte anzuklopfen.
»Abendbrot, Galen!« flötete mein vergeistigter Bruder fröhlich und reckte den Hals, um das vollbeladene Tablett zu stabilisieren. »Die Wachen sagen, daß du im Regen stehst und die Federn hängen läßt!«
Ich merkte, daß ich die Arme wieder bewegen konnte. Ich fühlte, wie meine Beine schwach wurden und vor Erleichterung und in der Erinnerung an die Angst schlotterten.
»Ja, aber was stehst du denn da rum? Ab ins Bett, wenn es dir schlecht geht, Galen, und dann Suppe. Und Wein, auch wenn ich finde, daß du noch zu jung bist. Was soll’s, wenn du erst mal gefestigt bist, dann wette ich, du – «
»Brithelm!«
Mein Bruder hörte auf zu reden und blieb mitten im Zimmer stehen, wobei das Tablett auf seinen dicken, roten Haaren schwankte.
»Brithelm, mir geht es nicht gut.«
Während mein Bruder mich in Decken hüllte und mir heiße Suppe und gesüßten Wein verabreichte, erzählte er seine Geschichte.»Alfrik hat ebenfalls die Satyre getroffen, denen wir im Sumpf begegnet sind«, erzählte Brithelm unschuldig. »Das hat er mir erzählt. Damals wußte er auch noch nicht, daß es nur Illusionen waren. Er hat mehrere von ihnen getötet und dabei entdeckt – wie wir –, daß es Ziegen waren, und in seiner ehrenhaften Wut…«
»›Ehrenhafte Wut‹, Brithelm? Waren das Alfriks Worte?«
»Ja doch, ich halte sie für passend, du etwa nicht? Denn in seiner ehrenhaften Wut über die Tatsache, daß man unschuldige Tiere für so überaus schändliche Pläne mißbrauchte, suchte er das Lager des Zauberers und fand den Schurken unweit der Stelle, wo er die Satyre gefunden hatte. Er schlug die ganze Gruppe in die Flucht.
Vielleicht hatten wir es deshalb später so leicht, den Schurken aus dem Sumpf zu vertreiben, als wir ihn dann trafen.«
»Ich schätze, das ist Alfriks Theorie?«
»Allerdings. Er hat mir erklärt, er habe den Weg für die Heldentaten von Sir Bayard Blitzklinge freihalten wollen. Auch wenn Alfrik voller Demut bestreitet, daß ihm allein der Ruhm für die Vertreibung des Bösen aus dem Sumpf gebührt.«
»Voller Demut«, bestätigte ich.
Ich fühlte mich noch schlimmer. Die Übelkeit, die ich nur für die Wachen erfunden hatte, schien jetzt wahr zu werden und überkam mich in schwindelerregenden Wellen. Ich hustete und nieste einmal. Dann wickelte ich mich fester in die Decken und streckte die Hand nur so weit heraus, daß ich die Schale mit süßem Wein hochheben und daraus trinken konnte. Ich sah zum Fenster, wo still die kleine, dunkle Gestalt lag.
Brithelm brabbelte etwas über Alfriks Tapferkeit, wie er Alfrik aus dem Treibsand gerettet hatte, und wie sie an dem Morgen nach unserer Trennung zusammen aufgebrochen waren. Wie sie ohne Zwischenfall über die Ebenen von Küstenlund gezogen waren – auf Pferden, die Alfrik aus Dankbarkeit von Archala, dem Anführer der Zentauren, bekommen hatte, weil er geholfen hatte, die Satyre aus dem Sumpf zu vertreiben.
Anscheinend hatten sogar die Zentauren Alfrik seine haarsträubende Geschichte abgekauft.
Brithelm fand kein Ende. Er erzählte, wie schnell die Zeit auf dem Weg verstrichen war und wie angenehm, bis auf die Furcht, die in beiden aufkam, daß sie Bayards Paß womöglich nicht finden würden. Dann hätten sie sich nordwärts wenden und fast bis Palanthas reiten müssen, um die Berge zu durchqueren, und dieser Umweg hätte bedeutet, daß Alfrik das Turnier versäumte. Und Brithelm fuhr fort, daß »etwas« ihm gesagt hätte, er solle dem Flug der Raben folgen. Dann hatten unterwegs bald Raben über ihnen in den Zweigen gesessen, die unheilvoll krächzten, und als Alfrik schrie und fliehen wollte, flogen die Vögel ostwärts nach Solamnia.
Ich nippte wieder am Wein, sah nochmals aus dem Fenster und erschauerte.
Brithelm sagte, daß er und Alfrik den Paß gefunden hätten, indem sie den Raben folgten. Sie hatten die Berge mitten in der Nacht durchquert.
Die Entdeckung des Passes, die schnelle, ungehinderte Reise: Das alles war für Brithelm erstaunlich. Die Leichtigkeit war ein sicheres Zeichen, daß die Hand des Schicksals die Geschicke seines älteren Bruders lenkte. Und doch, als sie in Kastell di Caela ankamen, war zu seiner großen Überraschung – offenbar auch zu Alfriks – das Turnier schon vorbei. Sir Robert di Caela war höflich, jedoch abgelenkt und in Gedanken, als er ihnen Zimmer im Schloß zuwies und die beiden ausgiebig lobte, weil sie den rauhen, gefährlichen Weg überstanden hatten.
»Aus irgendeinem Grund ist Sir Robert allerdings über Bayard Blitzklinge äußerst ungehalten«, schloß Brithelm und starrte mich neugierig an. Es war, als würden seine Augen mich durchbohren.
Er stand vom Bett auf, wo er gesessen hatte, und ging zum Fenster. Zärtlich hob er den leblosen Körper des Vogels auf und hielt ihn in den Händen.
»Der arme Kerl muß hier reingeflogen sein und sich am Fenster zu Tode gestoßen haben. Komisch, Galen«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Komisch, daß die Diener ihn nicht weggenommen haben, bevor sie dich hier unterbrachten. Er ist schon tagelang tot. Wie traurig.« Wenig feierlich warf er den Vogel aus dem Fenster.
»Jedenfalls ist das nichts, was ein kranker Junge in seinem Zimmer haben sollte.«
Schon tagelang tot. Wie der Gefangene in der Wasserburg.
Ob es nun vom Wein kam oder vom Fieber, oder ob ich vom Liegen müde war, meine Augen schwammen plötzlich in Tränen. Ich hatte Mühe, sie zurückzuhalten, als ich lossprudelte.
»Brithelm, ich habe furchtbare Dinge getan.«
Er sah mich scharf an und nickte. Und ich erzählte meine Geschichte oder zumindest das, was ich zu erzählen wagte.»Dieser Vogel war also Benedikt di Caela?« fragte Brithelm zwischen zwei Mundvoll hartgekochtem Ei.
»Nein, verdammt noch mal! Dieser Vogel war eine Zwischenstation für Benedikt di Caela, für Gabriel Androctus, für den Skorpion, was immer du willst. Wer oder was er auch ist, er ist immer noch hier im Schloß und heckt gemeine Pläne aus.«
Brithelm war sofort auf den Beinen und lief zur Tür.
»Du und ich müssen einfach zu Sir Robert di Caela gehen und ihm sagen, daß dieser… Gabriel Androctus, den er als seinen zukünftigen Schwiegersohn betrachtet, in Wirklichkeit der wiederauferstandene Familienfluch ist.«
»Das glaube ich kaum, Brithelm. Wer weiß, was für fiese Tricks der alte Benedikt noch im Ärmel hat.«
»Dann wird es auch Zeit, Sir Bayard die ganze Geschichte zu erzählen, Galen. Dann wärst du nicht ganz ohne Beschützer.«
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