Jetzt kam der schwierige Teil. Die Gänge hatte ich mir zwar gut eingeprägt, doch ich hatte nicht die geringste Ahnung, was hinter den meisten Türen lag. Hinter irgendeiner mußte natürlich das Zimmer des Skorpions sein, in dem es einen Hinweis darauf geben mochte, wer er war, und was er wirklich wollte.
Der Fluch von Kastell di Caela war überfällig, und nach Bayards Geschichte damals in den Bergen war ich sicher, daß der alte Benedikt – nämlich der Skorpion – wieder da war.
Beim Warten spielte ich unschlüssig mit der Calantina herum. Ich ging meine Möglichkeiten durch. Vor dem Fenster legte sich die Dämmerung über den Hof, die Mauern und Türme und die weiten Ländereien von Kastell di Caela. Irgendwo über mir – vielleicht genau auf der Spitze dieses Turms, wo das Banner der di Caelas noch eine letzte Stunde rot und blau und weiß herumflatterte, bevor ein Klettermaxe von Diener es für die Nacht einholen würde – begann eine Nachtigall ihre dunkle Serenade an Monde und Sterne.
Im Zimmer waren nur drei Kerzen, die ich alle gegen die einbrechende Dunkelheit anzündete. Dann ging ich zum Fenster und sah nach unten.
Der Burghof unter mir war bereits in Schatten gehüllt, und schemenhaft bewegten sich Diener darin, die aufgezäumte Pferde für abreisende Ritter bereitstellten. Das Bankett war schon fast vorbei. Irgendwo vom Speisesaal hörte ich grölende Lieder, ein sicheres Zeichen, daß man beim Fest von Wildbret zu Schnaps übergegangen war.
Immer noch kein Plan. Das Wiesel steckte fest. Ich überlegte fieberhaft, nahm wieder die Würfel zur Hand.
Zeichen des Drachen? Irgend etwas von den Versen fiel mir wieder ein – so was wie »eine Maske der Unschuld zerstören«. Ich konnte mich an nichts weiter erinnern, so daß ich es fürs erste sein ließ und mich wieder aufs Bett setzte, wo ich in den Kamin und in das heruntergebrannte Feuer starrte, das einer meiner Brüder vor meiner Ankunft im Schloß angezündet haben mußte. Das Feuer war jetzt fast erloschen und ließ die Finsternis ins Zimmer.
Ich griff gerade nach einer Kerze, als ich Geräusche am Fenster hörte – Kratzen und das Schlagen von Flügeln und einem Schnabel gegen das Fenster. Mir blieb das Herz stehen.
Ich lief zum Fenster und machte es weit auf, obwohl ich genau wußte – wie man das eben durch Ahnung oder Instinkt weiß –, was mich draußen erwartete.
Ich frage mich heute noch, warum ich den Raben hereinließ. Ich wußte, wo er herkam, und ich wußte Bescheid über den, der ihn geschickt hatte – geschickt oder sich selbst in ihn verwandelt hatte oder in ihn eingedrungen war wie Wasser in einen Krug. Ich habe nie herausgefunden, wie es funktionierte. Obwohl alles, was ich vom Skorpion wußte, brutal und oft blutrünstig war, machte ich das Fenster auf.
Während ich zum Fenster lief, stieg jede nur mögliche Angst in mir auf. Ich dachte an die Drohungen in der Wasserburg und im Wächtersumpf, an die so unheimlich verwandelten Ziegen und an den toten Agion im Vingaard-Gebirge, dem die scharfen Zinken eines Dreizacks grausam tief in der Brust steckten. Auf dem kurzen Weg vom Bett zum Fensterladen hatte ich sogar so intensiv daran gedacht, daß ich einen Augenblick lang erleichtert und direkt etwas enttäuscht war, als ein lebendiger, atmender Rabe ins Zimmer flog, wo ich mich doch auf ein Monster vorbereitet hatte.
Er starrte mir direkt ins Gesicht, wie ein Mensch oder ein Pferd starren würden, anstatt den Kopf zur Seite zu drehen und mich mit dem einen glitzernden Auge zu betrachten, wie das jeder natürliche Vogel tun würde. Und die Stimme war überhaupt nicht natürlich, allerdings erschreckend bekannt.
»Das Wiesel wieder. Deine dummen Brüder haben deine Ankunft heute abend überall herum erzählt, und du hast gewiß die Neugier des Alten di Caela auf dich gezogen. Er hat viele Fragen an dich.«
»An mich? Ich bin doch bloß ein einfacher Knappe. Ex-Knappe, genau genommen«, sagte ich, während sich meine Gedanken überschlugen.
»Nun«, zischte der Rabe, »er ist einfach ein wenig… betrübt, was Bayard betrifft – der doch auf die Prophezeiung hin den ganzen Weg auf sich genommen hat, nur um durch viel Pech und Verzögerungen aus dem Rennen geworfen zu werden.« – Ich schwöre, daß der Rabe an dieser Stelle kicherte. – »Nur du und ich wissen, daß du dieses Pech warst, kleiner Freund. Du hast die Verspätung auf dem Gewissen. Sir Robert vermutet das, aber nur du und ich wissen es.«
»Und trotzdem«, versuchte ich es, »Bayard tut mir leid.« Ich tat möglichst unbeschwert. »Bloß weil er Enid di Caelas Hand nicht errungen hat, kann er doch nicht völlig leer ausgehen. Bestimmt habt Ihr, wo Ihr soviel Glück gehabt habt, doch ein kleines bißchen Mitleid mit ihm.«
»Soviel Glück?« tobte die Stimme los und versuchte, der schmalen Vogelkehle einen Schrei zu entlocken, während der Rabe in einem zunehmend hektischen Kreis zwischen Kamin und Bettpfosten herumflog. »Du nennst vierhundert Jahre vergebliche Bemühungen und vergebliche Pläne ›Glück‹?«
Der Rabe flatterte zum Fensterbrett, wo er mit seinen gelben Krallen zum Himmel über dem hohen Turm des Schlosses zeigte. Über dem konischen Dach, dessen Fahnenstange jetzt leer war, und hinter den dünnen Wolkenschwaden konnte ich sehen, wo die verfeindeten Konstellationen sich trafen, wo der Kiefer von Paladin dort an der nördlichsten Himmelsecke nach Takhisis’ Schwanz schnappte. Um diesen ewigen, unsterblichen Zwist glitzerten die kleineren Sterne wie Tausende von eingenähten Juwelen.
»Nein, kleiner Freund«, fuhr die Stimme fort, während der Rabe eine knochige, gelbe Kralle aus seinen Federn streckte und seine Augen erst rot, dann orange, dann gelb glitzerten.
»Bayard stürmt herbei, um Prophezeiungen zu erfüllen, die vor Jahrhunderten geschrieben wurden. Prophezeiungen, die die Niederlage von Benedikt di Caela und seinen Nachfahren verkünden.«
Ich nickte blöd, wie ein Junge, der dem Schulmeister zustimmt, obwohl die Stunde völlig an ihm vorbeigerauscht ist.
»Prophezeiungen, die von Männern stammen, die… vielleicht eine Vision empfangen haben. Eine Vision aus einem blendenden Verschmelzen von Licht und Begreifen. Doch hinterher, wenn die Vision vorüber ist und sie etwas daraus herleiten sollen – aus dem Chaos von Worten und Namen und Ereignisberichten, die noch gar nicht geschehen sind, sondern noch bevorstehen –, wer kann da behaupten, daß sie verstanden haben, was sie aufgeschrieben haben?
Wer kann behaupten, daß Bayard es verstanden hat? Denn ich will dir sagen, es gibt mehr als eine Art, diese Prophezeiung da zu lesen.«
Der Vogel hockte auf dem Fensterbrett und sah mich intelligent und grausam an. Da bemerkte ich zum erstenmal, daß seine Federn matt und stumpf waren, und daß die Daunen auf seinem Kopf schon dünn wurden, als wenn das Tier von einer seltsamen, zehrenden Krankheit besessen wäre.
Ich hörte etwas am Fensterglas und wandte mich diesem neuen Geräusch zu, wobei ich den Vögel sorgfältig im Blick behielt.
Im Hof fiel Schnee. Schnee im Frühherbst – unnatürlich und unheimlich. Während der Schnee fiel, sprach der Rabe.
»Kennst du die Geschichte von Enrik Sturmfeste?«
Ich kannte sie nicht und schüttelte stumm den Kopf.
»Enrik Sturmfeste – einst Ritter des Schwertes wie Bayard Blitzklinge, dann Ritter der Krone. Er wollte Ritter der Rose werden und strebte dies nicht an, weil er bei diesem Orden so viel Gutes vollbringen konnte, o nein, sondern wegen der Verlockungen von Ehre und Ruhm, die mit diesem Orden einhergingen.
O ja, ich weiß, daß ein Ritter nach beidem streben kann. Er kann sich gleichzeitig von ganzem Herzen nach dem Ruhm der Ritterschaft und nach den guten Taten sehnen. Ich weiß auch, daß an so einem Gleichgewicht der Bestrebungen nichts auszusetzen ist.
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