»Ja, Sir.«
»Aber mir wurde gesagt…«
»Sir?«
»… daß Sir Andreas nur zwei Söhne hat«, überlegte Sir Robert mit schiefgelegtem Kopf. Er nahm mich bei der Schulter und schob mich unter einen Fackelhalter an der Wand – eindeutig, um mich besser betrachten zu können.
»Ich werde oft vergessen, wenn man die Söhne aus der Wasserburg aufzählt«, erwiderte ich verzweifelt schnell, wobei ich mit weit aufgerissenen Augen auf den Fackelhalter über mir starrte, damit sich meine Augen mit der starken Hitze und dem Rauch der Fackel füllen konnten.
Aus irgendeinem Grund brannte meine Kehle schon ohne die Hilfe von Fackel oder Rauch. Und nachdem das Feuer die Tränen herausgelockt hatte, brach ich gekonnt in falsches Schluchzen aus.
»Meine Brüder sperren mich in den Ställen ein, Sir Robert. Bei den Jagdfalken!« schniefte ich.
Sein Griff an meiner Schulter ließ nach.
»Wenn das so ist, mein Junge, dann werden sie sich bald dafür verantworten«, erklärte er – wirklich eine verwirrende Bemerkung.
Ich sah ihn neugierig an. Er drehte sich weg und sagte verlegen zu mir:
»Jetzt reiß dich zusammen, Galen. Du bist zu groß für Tränen.«
Als wir durch einen Bogen in einen weiteren Raum traten und auf eine breite Treppe zugingen, folgten meine Augen den Stufen zu einer Empore mit Marmorbrüstung und Statuen von Falken und Einhörnern. Fein gearbeitete, metallene Kuckucke saßen auf Schaukeln, die von der Decke der Burg herunterhingen. Ihre Aufhängungen verloren sich in der Dunkelheit und der Höhe.
Plötzlich pfiff hinter uns ein Kuckuck. Ich drehte mich nach dem Geräusch um.
Und hatte dort auf der Galerie eine Erscheinung, die einen Metallkuckuck aufzog.
In Wahrheit war es ein Mädchen ungefähr in meinem Alter in einem einfachen, weißen Kleid, das von der Prinzessin bis zur Dienerin praktisch jedes Mädchen als bequemes Kleidungsstück tragen konnte. Es war jedoch offensichtlich, daß diese dort es nicht gewohnt war, irgendwelche Befehle zu befolgen. Sie bewegte sich über die Empore, als ob sie ihr gehörte.
Das Mädchen hatte blondes Haar und eine helle Haut, doch selbst von unten konnte ich sehen, daß ihre Augen dunkel und ihre Wangenknochen hoch wie die einer Frau aus den Ebenen waren. Daher wunderte ich mich zunächst über ihre Abstammung, um dann auf der Stelle zu beschließen, daß sie von beiden Seiten der Familie das Beste geerbt haben mußte.
Das Mädchen beachtete uns kaum, sondern war damit beschäftigt, den einen Kuckuck zu reparieren, dessen Ruf anscheinend nicht mehr funktionierte. Mit einem winzigen, glitzernden Werkzeug untersuchte sie den Kopf des Spielzeugs.
»Sag den Dienern, daß sie noch ein Gedeck zum Abendessen auflegen sollen, Liebling«, rief Sir Robert dem Mädchen auf dem Absatz zu. »Wir haben einen Gast.«
»Sag du’s ihnen«, rief das Mädchen zurück, dessen Aufmerksamkeit immer noch seiner Aufgabe galt. »Du gehst doch in die Richtung.«
Sir Robert errötete kurz und ballte die Fäuste. Dann schüttelte er lachend den Kopf und ging weiter. Ich lief doppelt so schnell, um mit ihm aufzuschließen.
»Eure Frau, Herr?«
»Meine folgsame Tochter, Enid di Caela«, grinste Sir Robert, als wir über ein paar Stufen zu einer anderen Mahagonitür gingen.
Enid? Die kuchenbackende, stämmige Enid aus meiner Phantasie? Bayard hatte guten Grund, niedergeschlagen zu sein!
»Enid di Caela«, wiederholte Sir Robert, diesmal ruhiger und weniger lustig. »Bald Enid Androctus. – Ah, und hier ist einer deiner Brüder!«Es dauerte einen Augenblick, bis Sir Roberts letzte Bemerkung mich erreicht hatte. Ich kämpfte immer noch mit dem Gedanken, wie sehr die echte Enid die Enid meiner Vorstellungen bei weitem übertraf. Ich war immer noch in ihr blondes Haar verstrickt, ertrank in ihren dunklen Augen, wie die Dichter vielleicht sagen würden. Doch als Alfrik durch einen Türbogen vor uns trat, konnte ich mich gerade noch davon abhalten, kehrt zu machen und durch die getäfelten, kuckucksbesetzten Gänge zu flüchten.
Mein Bruder war beunruhigend gelassen und regelrecht freundlich, als er mich im langen Flur von Kastell di Caela traf, auch wenn ich glaube, daß es Sir Robert verwirrte, daß zwei lang getrennte Brüder einander nicht glücklich in die Arme fielen.
Während uns Sir Robert in das Zimmer führte, das man uns zugewiesen hatte, begann ich die Hoffnung zu hegen, daß etwas meinen Bruder unterwegs verändert haben mochte. Vielleicht war er weiser und verzieh leichter als zu dem Zeitpunkt, an dem ich ihn bis zum Bauch im Wächtersumpf zurückgelassen hatte. Da Alfrik einen höflichen, ja, freundlichen Ton anschlug, beschloß ich, daß es Schlimmeres geben konnte, als heute abend sein Zimmer zu teilen.
Als er mich dann in der eindeutigen Absicht, mich zu erdrosseln, ansprang, sobald die Tür sich schloß, konnte ich bloß noch schwach Einspruch erheben.
»Bruder, bitte! B-bitte! Du bringst mich um!«
Das war doch hoffentlich laut genug gewesen, um Sir Robert zurückzurufen. Aber es kehrten keine Schritte zur Tür zurück und Alfriks Würgegriff wurde noch fester.
»Genau, kleiner Bruder. Diesmal ist es aus mit all den großen Tönen und Versprechungen und Hilferufen, denn ich werde dich umbringen. Dich erwürgen, weil du mich da unten im Wächtersumpf hast stecken lassen.«
»Aber was wird Sir Robert daz – « Meine Stimme quetschte sich zu Zischen und Pfeifen zusammen.
Alfriks Griff ließ nach.
»Du hast recht, Wiesel. Wenn ich dich fertigmache, könnte das meine Aussichten hier doch sehr beeinträchtigen.
Auch wenn ihr hier zur Zeit nicht gerade beliebt seid – du und dein feiner und mächtiger Sir Bayard Blitzklinge nämlich –, würde es mir nicht gut anstehen, etwas so Unsolamnisches anzustellen wie einen Brudermord, hm? Besonders da du keine Gefahr mehr für mich bist und nicht länger etwas hast, was ich haben will.«
Er erzählte mir, was er über das Turnier in Erfahrung gebracht hatte – von den Kämpfen und den Ängsten und der kalten Macht von Sir Gabriel Androctus und von Sir Robert di Caelas wachsender Ungeduld, als die Tage vergingen und kein Bayard Blitzklinge auftauchte. Breitbeinig stand er über mir und strahlte über unsere Verspätung.
»Ich schätze, es ist nur die solamnische Höflichkeit, die ihn davon abhält, euch beide zu teeren und zu federn und in einem Faß zum Vingaard-Gebirge zurückzurollen.«
»W-wie ist es dir überhaupt gelungen…«
»Euch zu überholen? Anscheinend haben dich und Bayard auf dem Weg zum Schloß alle überholt, was?«
Er stemmte die Hände in die Hüften und lachte. Lachte, bis er knallrot anlief und die Adern an seinem Hals anschwollen und ich mich allmählich fragte, ob mein Bruder wohl nicht alle Tassen im Schrank hatte. Ich nutzte die Gelegenheit, unter ihm weg zu schlüpfen und unter einen Tisch in der entferntesten Ecke des Zimmers zu kriechen.
»Brithelm«, erklärte er, als sein Lachen nachließ und er wieder Luft holen konnte. »Brithelm war es, der mich aus dem Treibsand geholt hat. Und ich habe ihm gesagt, daß ich nach Kastell di Caela müßte. Ich habe ihm von dem Turnier erzählt, und daß wir uns beeilen müßten, um rechtzeitig da zu sein.
Also sauste er zur Wasserburg zurück und ist ein paar Stunden später mit zwei von Vaters besten Pferden und Proviant für eine Woche wieder da. Wir also los nach Kastell di Caela. Ich habe mir keine großen Chancen für das Turnier ausgemalt, aber ich dachte, ich würde nebenbei Gelegenheit bekommen, dir die Haut vom Leibe zu ziehen, oder wenigstens deinen Platz als Bayards Knappe einzunehmen. Denn niemand will einen Knappen, der seinen eigenen Bruder ertränkt.
Jedenfalls verschafft mir Brithelm nicht nur Pferde und Proviant, sondern er kennt auch diesen Paß durch das Vingaard-Gebirge weit im Süden von Westtor. Ein Paß, der seiner Aussage zufolge, unsere Reise um mindestens drei Tage abkürzt.
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