Wir waren gezwungen, Agion dort liegen zu lassen, wo er gefallen war – wo er den scharfen Stahl empfangen hatte, der für Sir Bayard bestimmt gewesen war. So schichteten wir Steine über die reglose Gestalt unseres Gefährten, bis sich bei Sonnenuntergang ein großer Steinhügel über dem Körper erhob.
Bayard stand in Tunika und mit langem, staubigem Haar vor unserem Werk. Meine Hände und Schultern schmerzten vom Schleppen und Heben der Steine. Irgendwo im dichten Dickicht einer nahen Zeder meldete sich eine Eule.
»Auch das ist schlimm«, sagte Bayard nachdenklich.
»Sir?«
»Ich weiß nichts darüber, was Zentauren in diesem Fall tun«, fuhr er leise fort, als wäre ich nicht da.
»Aber es gibt die Form des Ordens. Und auch wenn er kein Solamnier war, sehe ich keinen Grund, warum diese Worte nicht zutreffen sollten, warum sie ihn nicht… miteinschließen sollten.«
Merkwürdigerweise wurden die Nachtvögel still, als Bayard neben dem Grabhügel stand und das alte Gebet sang:
»An deine Brust nimm, Huma, ihn
Am Himmel, ungeteilt und wild.
Gönn eines Kriegers Frieden ihm;
Befrei den letzten Blick so mild
Von den Wolken der Kriegesflammen
Die von Sternenfackeln stammen.
Laß seinen letzten Atemzug
Ganz sanft in der Luft sich wiegen,
Laß über Rabenträumen ihn fliegen,
Wo Tod bringt nur des Falken Flug.
Dann steig er auf zu Humas Schild
Am Himmel, ungeteilt und wild.
«Als wir in die Vorberge herunter gelangten, wurde das Wetter immer wärmer, und die Temperatur stieg von eisiger Kälte zu dem an, was man frisch nennen könnte. Irgendwann waren wir in einem Land, das ganz nach Frühherbst aussah. Die vereisten Zweige der Berge wichen grünem Leben, als der Pfad sich durch Vallenholzbäume, Birnbäume und Ahorn wand, deren Blätter sich langsam rot, gelb und orange vom Hellblau des solamnischen Himmels abhoben.
Wir waren wirklich in Solamnia, der Heimat der Legenden. Fast jede Erzählung, die ich auf den Knien meines Vaters gehört hatte, hatte in diesem geschichtsträchtigen Land ihren Anfang und meist auch ihr Ende genommen.
Aber es kam mir so vor, als wäre Bayard auf dieser Seite der Berge eher noch rastloser. Man konnte sehen, daß Kastell di Caela ihm nicht nah genug war. Er hatte es eilig. Zum erstenmal gab er Valorus die Sporen, und der große Hengst trat aus, schnaubte und tat dann, was sein Reiter wünschte.
Ich fand das Tempo unangenehm, aber nach vielleicht vier Stunden merkte man es auch den Pferden an, die uns ja schließlich trugen. Schon nach ein, zwei Stunden begann das Packpferd zu schwitzen, zu schnauben und zu stinken, und als wir wirklich ebenes Land erreicht hatten, kamen mir Visionen, wie die Stute mitten im Laufen umkippte, weil ihr Herz aussetzte. Bayard würde allein weiterreiten.
Bayard zeigte kein Zeichen von Gnade oder Erschöpfung. Die Strapazen der Reise schienen ihm überhaupt nichts mehr auszumachen. Den ganzen Morgen und den ganzen Nachmittag lang trieb er den lahmer werdenden Valorus durch rauhes Gelände, als wenn wir eine Kavallerie wären – oder, noch schlimmer, Späher einer Bande von räuberischen Nomaden. Die Bauern oder Reisenden, auf die wir gelegentlich trafen, wichen vor uns zurück, weil sie zweifellos dachten: Gut, sie sind nur zu zweit, aber ihren Mienen nach sind sie die Vorhut einer schrecklichen Horde Plünderer.
So ritten wir bis tief in die Nacht weiter. Dann endete unsere gnadenlose Reise, und Bayard glitt von Valorus, als würde er es selbst mit dem Schlafen eilig haben, und sagte bloß: »Hier.«
Dann band er die Zügel an den tief hängenden Ast eines Apfelbaums, lehnte sich an den Stamm und fiel rasch in tiefen Schlaf.
Ich saß auf meiner Decke. Einen Augenblick lang dachte ich, ich wäre wieder in der Wasserburg und Opfer irgendeiner Strafe, aber dann klärten sich meine Gedanken, und die Umgebung kehrte wieder an ihren Platz zurück – die leicht gewellte solamnische Landschaft, die Sterne von dem Buch Gilean direkt über meinem Kopf, ein großer, bewaffneter Mann, der neben meiner Decke stand und etwas sagte, was ich zuerst nicht verstand. Aber dann…
»…bis wir nach Kastell di Caela kommen. Von dort aus kannst du ein Dutzend Wege nach Hause finden, Galen. Wenn nicht Ritter, die vom Turnier heimziehen, dann gewiß Kaufleute oder Barden oder Pilger auf ihrem Weg nach Westen – nach Küstenlund oder durch den Westtor Paß –, und die werden nichts dagegen haben, daß ihnen jemand mit den Pferden hilft, bis du wieder bei deinem Vater zu Hause bist.
Was mich angeht, so bin ich es deinem Vater schuldig, dafür zu sorgen, daß du nicht in Solamnia verloren gehst oder überfallen wirst. Sei aber sofort bereit und auf dem Pferd, sonst breche ich ohne dich auf.«
Bayard wirkte immer bedrohlich, nur nach den Ereignissen in den Bergen glaubte ich jetzt nicht mehr, daß er bluffte. Während ich in der kalten Nacht nach Luft schnappte – beim Aufwachen fühlt sich die Luft immer kälter an –, wickelte ich mich in meine Decke und klammerte mich dann aus Angst um mein Leben an der Mähne der Stute fest, während wir dem davongaloppierenden Sir Bayard nachhetzten, der schon vor uns in der Finsternis unterwegs war.
Noch drei Tage nach Kastell di Caela.
In den frühen Morgenstunden stoben wir wie Erscheinungen durch den kleinen Ort, den wir von dem Aussichtspunkt im Vingaard-Gebirge gesehen hatten – der Ort, in dem wir Bayard zufolge eigentlich Rast machen wollten. Seite an Seite preschten wir zwischen den dunklen, strohgedeckten Häusern hindurch, wobei uns nur ein paar Lampen in den Fenstern durch die verschlafenen Gassen führten, die zu dieser Stunde die einzigen Zeichen waren, daß das Dorf nicht gänzlich verlassen war.
Außer dem kurz angebundenen Wecken und ein oder zwei lauten Befehlen weigerte sich Bayard, mit mir zu reden. Er ignorierte jede Frage oder Bemerkung von mir, sah über mich hinweg oder durch mich durch, als wäre ich unsichtbar. Ich kam mir vor wie die Puppenspieler von Gutlund, die Erfinder und Darsteller in den Kenderpuppenspielen, die mit ihren hölzernen Figuren auf der Bühne stehen, sie bewegen und ihnen ihre Stimmen leihen. Die Zuschauer ignorieren diese Künstler schon so lange aus Tradition und achten nur auf die Puppen, daß viele Außenstehende sich fragen, ob die Kender die Puppenspieler überhaupt noch wahrnehmen.
Ja, zwischen uns hatte sich einiges geändert. Auch als der Himmel sich bewölkte und es wieder zu regnen begann, hüllte sich Bayard in Schweigen. Er blickte nur auf die Straße vor uns. Zweifellos brütete er über die Bemerkungen des Ogers vor sich hin.
Die Eintönigkeit der Straße – die leichten Hügel, das Schweigen, die Trübseligkeit von Wetter und Stimmung – war zum Verrücktwerden, so daß ich erleichtert und dankbar war, als sich hinter einer Anhöhe endlich eine Änderung der Landschaft andeutete. Wir blickten in ein Tal, das sanft nach Osten abfiel, und da lag vor uns Kastell di Caela, das von den hellen Zelten und den Pavillons von zwei Dutzend Rittern umgeben war.
»Kastell di Caela«, sagte Bayard gleichmütig und zeigte auf die Festung unter uns. »Wir kommen zweifellos zu spät.«
Er hätte ruhig beeindruckter sein können. Kastell di Caela war kein riesiges, imposantes Bauwerk wie, sagen wir mal, der Turm des Oberklerikers eine knappe Woche nördlich; doch es ließ das Haus meiner Kindheit wie eine Hütte erscheinen.
Ich zog an der Mähne der Stute, um sie einen Augenblick anzuhalten, obwohl Bayard bereits ins Tal unterwegs war.
Kastell di Caela öffnete sich gen Westen. Wir konnten von unserem Standort aus den Haupteingang und die Zugbrücke sehen. Vier kleine Türme erhoben sich genau an den Ecken eines riesigen, quadratischen Innenhofs, und diese Türme waren verschieden hoch. Der von uns aus hinterste war bei weitem der höchste, ein viereckiges Bauwerk, das hoch über die beiden konischen Türme davor hinausragte.
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