Der gute Zustand war bemerkenswert. Schießscharten und Mauerzacken wechselten sich an den Zwischenmauern ab wie lückenhafte, aber ansonsten tadellose Zähne. Die Westfassaden der Türme strahlten im Licht des Sonnenuntergangs hinter uns und glitzerten in einem rötlichen Licht, in dem das Schloß rostig braun, aber immer noch makellos erschien.
So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich weiß, ich war ein armer Bub aus der Provinz, der nicht an große Architektur gewöhnt war; aber obwohl dieser Ort seit über tausend Jahren stand, glänzte er so neu, als würde er wie der Sumpf, den wir hinter uns gelassen hatten, ständig nachwachsen und sich immer wieder vom Zahn der Zeit und vom Nagen des Wetters erholen.
»Ist doch was, oder?« flüsterte ich vor mich hin. Das Packpferd zuckte nervös und schüttelte mich im Sattel durch.
Ich dachte an Agion und wie er unter mir vor der verrückten Architektur des Schlosses zurückgewichen wäre. Dann fielen mir die wenigen Hütten und Höfe ein, an denen wir zwischen dem Sumpf und den westlichen Ausläufern der Berge vorbeigekommen waren, und wie unser Zentaurenfreund vor diesen kleinen Gebäuden zurückgeschreckt war, als wären sie irgendwie ein Versehen der Erde.
Das Schloß vor mir schien zu verschwimmen. Ich hatte keine Zeit, an Agion zu denken. Sir Bayard bekam zu viel Vorsprung. Mit einem scharfen Zungenschnalzen und einem Klaps auf die Flanke setzte ich die Stute in Marsch. Sie galoppierte den Hang hinunter, während sich ihr Reiter verzweifelt festklammerte, und schneller, als ich gedacht hatte, erreichten wir die Ebene vor dem Kastell di Caela und ritten an einigen Pavillons vorbei.
Wo die Ritter ihr Lager abbrachen.
Das Turnier war offenbar vorüber.
Bayard war an den Zelten und dem lauten Lager vorbei und schon fast an den Schloßtoren, bevor ich ihn erreichte.
Er hatte am Rand des Grabens angehalten und dem Posten auf den Zinnen seinen Namen zugerufen und wartete jetzt darauf, daß die Botschaft ins Schloß gebracht wurde – zweifellos zu Sir Robert di Caela. Dann würde das riesige Tor aufgehen und die Zugbrücke heruntergelassen werden. Aufrecht im Sattel sitzend, mit den Augen am Eingang zum Schloß, beachtete Bayard mich nicht, nicht einmal, als ich ihn ansprach.
»Es sieht natürlich nicht so aus, als ob wir ein warmes Bad und ein Federbett für die Nacht bekommen, oder, Sir Bayard?«
Vom Wassergraben aus war die Burg noch beeindruckender, denn die Mauern stiegen über zehn Meter bis zu den Schießscharten über dem Tor auf. Oben auf den Zinnen standen mindestens ein halbes Dutzend Bogenschützen und sahen gelangweilt auf uns herab. Sie waren überhaupt kein bißchen neugierig. Bloß wieder so ein ausländischer Ritter, dachten sie wahrscheinlich.
Nur kommt der hier zu spät.
Wenn man sich im Sattel zurücklehnte und sich den Hals fast ausrenkte, konnte man hinter den Bogenschützen über die Tormauer hinweg die Spitze des höchsten Turms in der Südostecke des Schlosses sehen. Oben auf diesem Turm flatterte ein großes, blaues Banner, das gut zu erkennen war, weil es vom Nordwind gebeutelt wurde – die Fahne des Hauses di Caela. Hellrote Blume auf weißer Wolke vor blauem Grund. Alles wirkte sehr reich, sehr blaublütig und sehr abweisend.
Nervös sah ich Bayard an, der mich nicht beachtete. Statt dessen stieg er ab und wühlte in den Decken auf Valorus’ Rücken herum, bis er etwas gefunden hatte, das in Leinen eingewickelt war. Es war so groß, daß ich überrascht war, daß ich es noch nicht früher bemerkt hatte.
Ja, wenn ich auch nur zur Hälfte Knappe gewesen wäre, dann hätte ich es nicht nur bemerkt, sondern mich sehr gut darum gekümmert.
Es war ein Schild, den Bayard hier am Eingang von Kastell di Caela auswickelte. Nicht der, den er gegen die Schläge von verschwindenden Satyren oder geheimnisvollen Ogern benutzt hatte, sondern ein glänzender, einer ohne jeden Kratzer. Auf ihm war ein rotes Schwert vor einer strahlend gelben Sonne eingraviert.
Der Schild der Blitzklinges.
Wenn Adel auf Adel trifft.
Die Tore wurden uns geöffnet, und Robert di Caela kam höflich lächelnd und elegant persönlich aus der Burg, um uns zu empfangen. Er war einer jener Männer, deren Haar schon in den Zwanzigern grau oder gar weiß wird, die aber unter dem Kopfschmuck eines doppelt so alten Mannes ihre jugendlichen Züge behalten, so daß sie im Endeffekt immer jünger wirken, als sie sind. Und in diesem jungen Gesicht hing ein weißer Schnurrbart, der sorgfältig um eine edel geschwungene Nase gestutzt war, die so fein und gekrümmt war wie der Schnabel eines Falken.
Seine Augen waren grün wie das küstennahe Meer. Das war kein Mann, der in seinem großen Saal Jagdhunde herumscheuchte.
Gutes Blut, gute Abstammung, ein Knochenbau, um den er zu beneiden war. Ich begann, Hoffnung für Enid zu hegen. Ich begann sogar, Hoffnungen für Bayard zu hegen – daß irgend etwas beim Turnier oder in den Gedanken dieses wichtigen, eleganten Mannes geschehen war, das Bayard zum Favoriten machte, zu Enid di Caelas auserwähltem Verehrer. Daß Bayard der Prophezeiung gemäß seinen Familiennamen mit dem der di Caelas verbinden würde.
So hoffte ich zumindest.
Bis Robert di Caela sprach.
»Blitzklinge, sagt Ihr? Ach, es gab eine Zeit, wo ich Angst hatte, der Name wäre ausgestorben – das muß in Eurer Jugend gewesen sein, als die Bauern Burg Vingaard erstürmten. Ja, der Name bedeutete uns einst viel. Vielleicht hätte er uns auch jetzt viel bedeutet… wenn Ihr rechtzeitig eingetroffen wärt.«
»Das Turnier…«, setzte Bayard fragend an.
»Ist vorbei«, erklärte Sir Bayard barsch. »Und meine Tochter ist verlobt.«
Bayards Gesicht wurde rot.
»Verlobt…«, fuhr Sir Robert mit einem Hauch von Kälte und Bangigkeit in seiner Stimme fort, »mit Gabriel Androctus, solamnischer Ritter des Schwerts.«
Ich konnte nicht ausmachen, ob diese Kälte und die Beklommenheit für Sir Bayard bestimmt waren, oder ob sie jetzt ausschließlich diesem Androctus galten. Aber ich konnte trotz seiner Höflichkeit feststellen, daß Sir Robert di Caela der auserkorene Schwiegersohn nicht zusagte.
»Nein, Sir Bayard Blitzklinge von Vingaard«, fuhr Sir Robert jetzt noch kälter fort, »es hieß, Ihr würdet hier sein – ja, Ihr wärt gar dazu ausersehen, das Turnier zu gewinnen. Mein alter Freund Sir Ramiro vom Schlund wollte schon einen erklecklichen Betrag auf Eure Lanze wetten.«
»Ich kenne Ramiro gut«, erwiderte Bayard bescheiden. »Er hat einen Hang zum Leichtsinn.«
»Der noch leichter wird, wenn die fragliche Partei nicht auftaucht!« fauchte Sir Robert. Dann beherrschte er sich wieder, lächelte und zeigte auf eine Tür zur Burg. »Der junge Mann, der durch die Lanze erwählt wurde, ist zwar etwas ungeschliffen, scheint aber tadellos erzogen und einzigartig zum Lanzenkampf begabt zu sein.«
Sir Robert blickte Bayard scharf an, der bei jedem Schritt über den Hof kleiner wurde. Als wir die Tür zur Burg erreichten, ergriff Bayard die Chance, Sir Robert und Kastell di Caela mit Anstand zu verlassen.
»Es liegt mir fern, Gastfreundschaft auszuschlagen, besonders die eines so edlen und großzügigen Hauses«, fing er an und erlangte beim Sprechen sein Gleichgewicht und sein Selbstvertrauen zurück, »aber meine Pferde sind müde. Und mein Knappe sicher auch.« Das kam fast wie ein Nachsatz.
»Aus diesem Grunde bitte ich Euch, mich bis morgen zu entschuldigen. Mit Eurer Erlaubnis werde ich meinen Pavillon außerhalb der Burgmauern bei den anderen Rittern aufstellen.« Der erste Fehler bei diesem ganzen, höflichen Rückzug war, daß wir gar keinen Pavillon zum Aufbauen hatten – nicht einmal ein Zelt. Doch Bayard dachte gar nicht ans Übernachten; er war nur darauf aus, hinter diese Mauern zu gelangen, wo wir ganz sicher bis in die frühen Morgenstunden an einem Lagerfeuer frösteln würden. Dann würden wir leise in Begleitung anderer aufbrechender Ritter abreisen. Nach dieser kurzen Unterhaltung mit Robert di Caela war es offensichtlich, daß der große Zweifel in Bayards Gedanken sich als richtig erwiesen hatte: Die handschriftliche Prophezeiung am Rand des Buchs von Vinas Solamnus war im besten Fall eine Ausgeburt der Phantasie, im schlimmsten Fall ein gemeiner Witz. Bayard war geschlagen. Anstatt sich selbst und den Namen Blitzklinge noch weiter zu beschämen, wollte er zügig zum Sumpf von Küstenlund zurückkehren, um die Nachricht vom Tod unseres Begleiters zu überbringen und sein Versprechen an Agion wahrzumachen, daß er sich dem Urteil der Zentauren beugen würde.
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