Er sah mich mit solcher Verachtung an, daß er zweifellos glaubte, ich würde auf der Stelle zerknirscht zusammenbrechen.
»Zuallererst ist Feigheit absolut unziemlich und unrühmlich für einen, der einem Ritter wie Sir Bayard dient. Aber es sind auch die kleineren Dinge – das Gejammer und Genörgel und die Sorge vor großen Strapazen und stürmischem Wetter. Er ist oft wirklich überflüssiger Ballast, denn wenn eine Kante in Seinem Sattel ist, dann findet Er sie und dazu noch das Steinchen in seinem Lager. Ich frage mich die ganze Zeit, was Er mal sagt, wenn wirklich Gefahr und echte Unannehmlichkeiten drohen. Aber ich habe schon zuviel gesagt.«
»Wenigstens darin hast du recht, Zentaur. Du redest zuviel. Vielleicht jammere und nörgele ich über das Wetter, aber guck dich doch um, Agion. Je höher wir kommen, desto kälter wird es, und ein großer, dämlicher Zentaur wird der letzte sein, der eine wirklich gefährliche Temperatur spürt.
Aber es gibt Gefahren. Uns könnten im höchsten Bereich des Passes die Vorräte ausgehen. Du kennst doch solche Geschichten – wie die Reisenden ihre Rationen verzehren, dann die Pferde und schließlich einander? Tja, wenn der Proviant verbraucht ist, kommt als erstes das Packpferd dran, dann Valorus – ich bin sicher, wir gehen nach Vertrautheit. Rate mal, wer der dritte ist, Agion. Man wartet immer bis zuletzt, ehe man jemanden der eigenen Art ißt – das ist die menschliche Natur, die Natur von allen, außer vielleicht Goblins. Überleg mal, wer hier der Außenseiter ist«, flüsterte ich, um mein Argument so bedrohlich wie möglich zu beenden. »Die Treue zur eigenen Art ist mächtig.«
So schmollten wir vor uns hin und weigerten uns, miteinander zu reden. Wir verteilten die Wachen für die Nacht, und der, der gerade nicht dran war, schlief unruhig.
Agion schnarchte dabei so laut, daß ich von Zeit zu Zeit auf meinem Wachtposten aus dem Schlaf schreckte und von Panik erfüllt war, daß ich gleich von einer Lawine oder einem Bergrutsch verschüttet werden würde, die von irgendeinem unbeachteten Gipfel auf uns hernieder brachen.
Das war alles Einbildung und Traum. Aber der Schlaf war wegen der Träume unruhig, denn alte Ängste stiegen aus dem Gedächtnis und aus der Phantasie hoch, um meinen Platz am Feuer und meine Decke zu teilen. Ich träumte, daß der Skorpion mich fand, daß Bayard alles über den Skorpion erfuhr, daß Alfrik mit dem Messer in der Hand aus dem Sumpf stieg, und daß Vater uns auf der Straße erwartete und mein Todesurteil in der Hand hielt.
Irgendwann sehr früh am Morgen – die Nacht war noch pechschwarz – schreckte ich während meiner Wache wieder aus dem Schlaf auf.
Das Glück hatte mich nicht verlassen. Ich war eingenickt, und dennoch war nichts Schlimmes geschehen. Seufzend blickte ich nach oben, wo das Buch von Gilean sich über mir kaum sichtbar am Himmel drehte und dabei immer wieder von den Wolken verdeckt wurde, die rasch von Osten nach Westen zogen. Man konnte kaum über den Bereich des Feuers hinaus sehen, kaum etwas anderes hören als sein Prasseln, das Atmen der Pferde, Agions Schnarchen und das schwache Heulen des Windes.
Aber von irgendwo da draußen im Süden – in Richtung Paß – trug mir der Wind ein Geräusch zu, das mich kerzengerade dasitzen und lauschen ließ. Doch dann hörte ich nur noch Schweigen in der Ferne; das Geräusch wiederholte sich nicht.
Eine Stunde oder so saß ich hellwach und still da und lauschte. Aber ich hörte nur das Knacken der Kiefernzweige im Feuer und das Grollen des Zentauren, den im Schlaf bestimmt keine Gedanken störten, weil sie das auch im Wachen nicht taten.
Was ich gehört hatte, waren vorüberziehende Stimmen. Und ich hätte schwören können, daß es sich so anhörte, als wenn meine Brüder einander beim Namen riefen.
Als Agion mich mit der Wache ablöste, dachte ich kurz daran, den Stimmen zu folgen.
Aber wo waren sie hin?
Wer konnte sicher sein, daß ich meine Brüder gehört hatte und nicht irgendwelche Monster?
Als Bayard am nächsten Morgen erwachte, brabbelte er etwas davon, das Schloß einzunehmen, »damit Vingaard wieder unser ist, Launfal«. Er war anscheinend hundert Meilen weit weg und dazu ein Dutzend Jahre in der Vergangenheit, so daß wir eine Weile brauchten, bis wir ihm erklärt hatten, wo er sich befand.
Er brauchte trotzdem noch eine Zeitlang, um sich wieder zu erholen. Mürrisch beschloß er, mit der Reise bis zum nächsten Tag zu warten, denn er wußte, daß er mit seinen Wunden den Ritt nicht überstehen würde.
Als der Abend kam, hatte sich Bayard einigermaßen erholt. Er entspannte sich und wurde regelrecht freundlich. Es gab immer noch kein Zeichen von dem Oger, darum kletterten er und ich auf einen gewaltigen, langsam ansteigenden Steinhaufen, der sich über dem Pfad erhob, und ließen Valorus und die Stute in Agions Obhut zurück. Bayard zeigte zum Horizont.
»Vielleicht haben sie damals in der Zeit der Träume hier nach Drachen Ausschau gehalten, als es noch Drachen gab«, murmelte Bayard.
»Wer?«
»Zwerge. Vielleicht auch Menschen. Vielleicht eine Art, die 1 älter ist als alle beide, oder eine, die aus beiden entstanden und längst vergessen ist. Wir wissen so wenig über die Zeit, in der diese Steine hierher gebracht wurden.«
Er sah mich versonnen an.
»Eigentlich«, überlegte er, »wissen wir gerade genug von unserer Vergangenheit, um uns Probleme zu machen.«
Bayard schwieg eine Zeitlang. Unter uns und im Osten fielen die Berge rasch zu Vorbergen ab, dann zu Hügelland, dann zu Ebenen, die ich selbst von unserem Aussichtspunkt aus noch sehen konnte – aus großer Entfernung und in zunehmender Dunkelheit.
So mußte dieses Land in der Zeit ausgesehen haben, die Bayard erwähnt hatte – damals in der Zeit der Träume, als Menschen gegen Elfen kämpften, als die Zwerge niemandem trauten, als alles nach Drachen Ausschau hielt. Vielleicht waren damals mehr Bäume in den Höhen gewachsen, weil sie noch nicht abgeholt und verfeuert waren. Damals gab es vielleicht sogar im Herbst mehr Vogelgezwitscher.
Während ich so nachdachte, blinkte im äußersten Osten in meinem Blickfeld ein stecknadelkopfgroßes Licht auf. Ihm folgte ein zweites, dann ein drittes, und bald war ein großer Fleck in der Dunkelheit da unten und der Osten voller schwacher Lichtpunkte. Es sah so aus, als würde man in einen Brunnen schauen, wo jemand – ein durchtriebener Junge vielleicht – ein paar Phiolen Phosphor versteckt hatte. »Solamnia«, sagte Bayard leise hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß er lächelnd an mir vorbeischaute.
»Was du am Osthorizont siehst, sind die Lichter eines Dorfes in Solamnia. Ein hübscher, kleiner Flecken auf halbem Wege zwischen diesem Paß und dem Südarm des Vingaard. Wenn die Götter es so wollen, können wir morgen abend dort sein. Und von da aus ist Kastell di Caela nur noch zwei Tage entfernt – einen Tag und eine Nacht Gewaltritt, wenn wir beherzt weiterziehen und es die Pferde schaffen. Für den Augenblick«, sagte er mit einem direkten Blick auf mich, während seine grauen Augen sich schon vor Müdigkeit trübten, »für den Augenblick haben wir wohl eine Rast verdient. Unabhängig von meinen Hoffnungen, rechtzeitig zum Turnier einzutreffen, werde ich nicht in finsterer Nacht auf felsigem Gelände das Leben meiner Gefährten riskieren.«
»Meister Bayard? Meister Galen?« rief Agion von unten, wobei erstmals ein Anflug von Furcht in seiner Stimme lag.
Er hatte Angst vor den rutschigen Felsen und dem trügerischen Geröll unter seinen großen, tolpatschigen Hufen.
Bayard ging zu einem Ausguck hinter uns, wo der Zentaur ihn sehen konnte.
»Agion, zünde ein Feuer an. Wir sind bald unten, und dann können wir alle beisammensitzen und reden und schlafen, wenn wir müde werden.«
Der große Steinhaufen erstreckte sich fast hundert Meter über das Plateau. Bayard kannte den Paß gut und ebenso das Plateau. Wenn er entschieden hatte, nicht bei Nacht zu reisen, ging es wirklich über trügerischen Boden.
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