Es dauerte lange, bis sich Bayard wieder regte. Inzwischen war sein Gegner den Pfad etwas weiter hoch geritten und hatte an einer Stelle angehalten, wo der Weg enger wurde und durch eine Granitspalte führte. Dort reichte der Fels zu beiden Seiten des Weges weit über seine Schultern. Es war unmöglich, den Oger zu umgehen, so wie er da auf seinem Pferd saß und den Pfad wie ein Felsen versperrte.
Agion war sofort zu Bayard geeilt, hatte sich neben ihn gekniet – für einen Zentauren keine leichte Sache – und hatte ihn behandelt. Mit verschiedenen, stark duftenden Kräutern versuchte er, ihn wiederzubeleben.
Ich hingegen stand einfach nur da. Ich betrachtete das riesige Wesen, das da träge wie ein Gepäckstück auf seinem Pferd saß. Es bewegte sich nicht. Es drohte nur.
Aber ich hatte den Eindruck, es würde mich beobachten. Und ich war schon früher auf diese Weise beobachtet worden.
Ich hörte Bayard hinter mir husten und die Rüstung scheppern, als er auf die Beine kam.
»Was hast du da vor meiner Nase herumgewedelt, Zentaur?«
»Goldwurz. Damit kann man…«
»Ich weiß, ich weiß, den Atem rauben und den Patienten umbringen. Also, wenn du fertig bist mit deinem Mordversuch, dann könntest du vielleicht…«
Bayard brauchte einen Augenblick, bis ihm einfiel, wo er war. Plötzlich hielt er inne und sah den Pfad hoch, wo der Oger auf seinem Pferd saß und wie eine riesige Metallsperre wartete. Ich blieb, wo ich war, und hatte es nicht eilig, mich meinen Gefährten wieder anzuschließen. Aber als ich sah, wie Bayard auf dem steinigen Hang ins Stolpern kam, wie er sein Schwert zum solamnischen Gruß erhob und Agion winkte, damit der ihm wieder auf Valorus half, spürte ich so etwas wie Scham.
Scham, daß ich nicht half.
Nicht, daß mich das lange beschäftigt hätte. Schließlich konnte man zwischen diesen Ogern und Zentauren hier umkommen. Ich kauerte mich etwas abseits vom Geschehen an einen Baumstumpf und erwartete den Ausgang, immer bereit zum Davonrennen, falls sich das Blatt gegen meinen Beschützer wendete.
Hoch zu Roß wendete Bayard jetzt Valorus und schrie dem Monster, das da oben den Pfad einnahm, seine Herausforderung zu.
»Wer bist du, daß du uns so unverschämt unseren friedlichen Weg durch diese Berge verwehrst?«
Keine Antwort.
Bayard fuhr fort: »Wenn du einen Funken Anstand in dir hast, dann tritt beiseite und laß uns kampflos passieren. Aber wenn du Kampf willst, dann sollst du ihn bekommen. Mit Bayard Blitzklinge von Burg Vingaard, Ritter des Schwertes und Hüter der drei Orden von Solamnia.«
Das klang wirklich hübsch, doch der Wächter des Passes blieb, wo er war, eine düstere Gestalt vor dem dunklen Osthimmel.
Mit erhobenem Schwert griff Bayard den Oger erneut an.
Diesmal war es fast so schnell vorbei, wie es losging. Das Biest schwang beiläufig sein Netz, fing damit Bayards Schwert und warf es klirrend auf ein paar Felsen südlich des Pfades. Dann ließ es die flache Seite des Dreizacks auf Bayards Helm herunterdonnern, und wieder stürzte unser Held und blieb still auf dem Boden liegen. Der Sieger saß auf seinem Pferd und sah zu, wie Agion vorgaloppierte und Sir Bayard in die Arme nahm, um ihn mühsam den Weg hinunter aus der unmittelbaren Gefahr zu holen.
Das war eine tapfere und dumme Handlung von dem Zentauren, denn wer konnte sagen, wann der Dreizack heruntersausen würde?
Außerhalb der Reichweite des Dreizacks lief Agion zügig an mir vorbei, und ich folgte ihm sogleich, wobei ich das widerwillige Packpferd hinter mir her zerrte.
Ungefähr hundert Meter vor dem wartenden Oger hielten wir auf einer kleinen, nicht so steinigen Fläche neben der Straße an. Agion kniete sich wieder hin und hielt Bayard Goldwurz unter die Nase.
Dieses Mal funktionierte es nicht. »Ist er…«
»Nur bewußtlos«, versicherte Agion. »Sir Bayard wird wahrscheinlich einige Zeit nicht zu sich kommen.« Er blickte auf den Pfad vor uns. »Und unser Feind ist anscheinend verschwunden.«
Ich folgte seinem Blick. Tatsächlich. Der schmale Pfad war jetzt frei von Ungetümen.
»Kannst du ihn tragen, Agion? Vielleicht können wir durchschlüpfen, solange Sir Riese weg ist. Oder wir könnten zurück nach Westen, nach Küstenlund, gehen.« Der Zentaur schüttelte den Kopf.
»Vorerst bleiben wir hier, mein kleiner Freund. Der Ritter ist verletzt. Er kann nicht transportiert werden. Bis er also aufwacht… zünden wir ein Feuer an und halten Wache und halten Ausschau nach Ogern.«
Ich blickte mich um. Es war nicht gerade eine vielversprechende Landschaft. Bayard hatte uns immer höher ins Vingaard Gebirge geführt, über die Baumgrenze hinaus in ein lebensfeindliches, felsiges Land aus Stein und Eis und hartem Fels. Die Welt um uns herum war in eine unbehagliche, nachdenkliche Stille verfallen.
Der folgende Tag war wahrscheinlich der bisher schlimmste. Bayard reagierte weder auf Goldwurz, noch auf Mimseng oder Schaltkraut. Das weiß ich, weil Agion mich zwischen den Felsen nach diesen und anderen Kräutern suchen ließ. Nachdem ich das Gebiet um die Lichtung und den Pfad noch einmal so weit abgesucht hatte, wie mein Mut es zuließ, kehrte ich zu unserem Lager zurück, wo Agion über einem immer noch bewußtlosen Bayard kniete.
»Hab ich Ihm je erzählt, was Megära über Schaltkraut zu sagen hatte?« fragte Agion.
»Schau mal, Agion, ich finde nicht, daß wir jetzt – «
»›Gut für alles, was Ihn plagt, Agion‹, sagte sie immer, solange Er ein Jahr auf die Wirkung warten will.‹« Er warf das Schaltkraut gleichgültig beiseite.
»Agion – «
»Er paßt auf, ob der geheimnisvolle Oger zurückkommt. Mit den plötzlichen Wetterumschwüngen und den geheimen Eigenschaften dieser stinkenden Pflanzen habe ich genug Probleme. Was mich betrifft, so werde ich es uns für die Nacht bequem machen, denn heute sieht es nicht so aus, als würde Bayard erwachen. Also können wir nicht weiter.«Bei Anbruch der Nacht sah es noch übler aus. Die Luft wurde dünner, und die Temperatur fiel noch weiter ab. Es war, als wäre plötzlich der Winter hereingebrochen. Die Landschaft um uns herum war in das blutrote Licht der untergehenden Sonne getaucht, und unsere Schatten wurden immer länger, während die Dunkelheit aus dem Osten vor uns hochkroch. Bald kam unser einziges Licht und die einzige Wärme von der armseligen Flamme, die Agion geschickt mit den spärlichen trockenen Zweigen und Blättern entzündet hatte.
Ich zog meine verzierten Lederhandschuhe aus der Tasche – die teuren, die ich mit dem Geld der Diener gekauft und während unserer ganzen Sumpfreise versteckt gehalten hatte, um keinen Verdacht zu erregen. Es war zu kalt, als daß ich mich darum geschert hätte, was jemand von meinen Sachen dachte.
»Findest du nicht, daß Sir Bayard diese Spielchen unten in Solamnia zu ernst nimmt?« flüsterte ich Agion zu. »Schließlich setzt er nicht nur sein eigenes Leben bei dieser hirnverbrannten Reise durch die Berge aufs Spiel, auch wenn er sich schon selbst ganz gut vordrängelt.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Agion. »Steht nicht irgendwo im Kodex: ›Im Turnier heißt es Leben oder Tod‹?«
»Ich bin unter Solamniern aufgewachsen, Agion, und ich denke, ich hätte solche Dummheiten schon mitbekommen, wenn es solche Dummheiten gäbe. Leben oder Tod ist jetzt der tiefe Winter, der über uns hereinbricht. Schau ihn dir doch an.«
Bayard lag neben uns auf einer Decke und war gegen den kalten Fallwind abgeschirmt. Er zeigte keine Anzeichen, daß er erwachen wollte, obwohl es schon zwölf Stunden her war, daß er sich zum letztenmal geregt hatte.
»Was soll ich denn machen?« fauchte Agion. »Es ist nicht der beginnende Kältetod, noch nicht einmal eine beginnende Frostbeule. Was Ihn plagt, Meister Galen, ist reine Unbequemlichkeit – die Schmerzen eines Edelknaben, der sich an den Kamin hockt, wenn der erste Frost den Boden berührt. Er ist zu weich, Meister Galen, und obwohl es nicht meine Aufgabe ist, Ihm solche Dinge zu sagen, muß das mal jemand aussprechen.«
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