Hier wird die Geschichte unklar, denn Kastell di Caela wird inzwischen seit zwanzig Generationen von dem Fluch heimgesucht, und jedesmal nimmt er eine andere Form an. Die Flut schlug fehl, weil Simeon di Caela Schleusen in den Burggraben einbaute, und Antonio di Caela hielt das Buschfeuer auf, indem er zur rechten Zeit die rechten Schleusen öffnete, Cyprian di Caela schlug die Ogerinvasionen zurück, und Theodor di Caela jagte Räuberbanden davon, die von einem geheimnisvollen Hauptmann in schwarzer Robe angeführt wurden.
Selbst die Umwälzung trug dazu bei, Benedikts Pläne zu vereiteln, denn am Ende der vierten Generation seit Beginn des Fluches trieben Bergarbeiter und Pioniere der Goblins Tunnel bis hundert Meter vor Kastell di Caela, wodurch sie die Bewohner in Angst und Schrecken versetzten, denn sie sahen ihren Feind nicht, sondern wußten ihn nur irgendwo unter sich. Als dann die Umwälzung die Grundfesten von Krynn erschütterte, brachen die Tunnel über ihren Erbauern und über Benedikt zusammen.
So kehrte er in jeder Generation zurück, unermüdlich, unerbittlich. In jeder Generation wurde er geschlagen, manchmal vom ältesten Sohn der di Caela, manchmal vom jüngsten oder mittleren Sohn. Oft vom einzigen lebenden Erben, denn Benedikts Angriffe fordern immer wieder ihren Tribut, auch wenn sie scheitern.
In dieser Generation ist es still geworden, denn Robert di Caela wehrte den letzten Versuch vor etwa vierzig Jahren ab, als sechzehnjähriger Knabe. Seitdem lebt das Haus di Caela in Frieden, und da Lady Enid di Caela die einzige lebende Erbin ist, werden ihre Kinder nach ihrer Heirat den Namen des Vaters annehmen, und das Land wird der Familie di Caela für immer genommen sein. Das jedenfalls glauben die Leute der Gegend.
Zumindest die meisten. Die Familie di Caela ist sich da nicht so sicher.«
»Und Er, Sir Bayard?« fragte Agion, als Bayard erneut eine Pause einlegte. »Ich habe diese vierhundertjährige Geschichte von Verfehlungen, Rache, Gewalt und Unrecht gehört, und ich muß gestehen, daß ich viele Fragen habe. Die wichtigste davon ist, was ist Sein Anteil an einer alten Geschichte des Jammers.«
»Auch das ist eine lange Geschichte«, meinte Bayard abwinkend, als hätte er genug vom Erzählen.
»Oh, bitte erzähl Er sie, Sir Bayard!« beharrte Agion. »Galen und ich lieben Geschichten!«
»Agion, vielleicht ist Sir Bayard ein bißchen müde und…«
»Laß nur, Galen«, sagte Bayard ergeben. »Ihr solltet es beide erfahren, da ihr mitbetroffen seid.«
Und wieder begann er mit einer weiteren reißerischen Geschichte, während seine Zuhörer neben ihm her ritten.»Meine Kindheit hätte der deinen sehr ähnlich sein können, Galen. Ich war Erbe eines großen Schlosses mitten in Solamnia.«
»Was meiner Kindheit wirklich sehr ähnelt, Sir«, stimmte ich sarkastisch zu. »Denn schließlich bin ich der dritte in der Erblinie für eine Rattenfalle von Wasserburg im Küstenlund.«
Bayard ignorierte mich, denn er war darauf versessen, seine Geschichte fortzuführen, und entschlossen, mir etwas beizubringen oder uns beide dabei umzubringen. Gibt es überhaupt erfolgreiche Männer mit einer Kindheit, die nicht von Unglück gezeichnet ist?
»Es waren keine Soldaten von Neraka und keine Räuber aus Estwilde, die mich meines Geburtsrechts, meines Schlosses und meiner Ländereien beraubten. Nein, keiner unserer alten Feinde verschwor sich gegen mich. Statt dessen waren es unsere eigenen Leute, die sich eines Sommerabends gegen meinen Vater auflehnten – ungefähr um diese Jahreszeit –, als ich vierzehn war. Sie töteten Vater und Mutter. Töteten auch die Diener und das Gesinde, weil unsere Leute ›Mitleid mit den Unterdrückern hatten‹. Und als ich vierzehn war, hätten sie auch mich getötet, wenn mein Glück und ihre Aufregung nicht meine Rettung ermöglicht hätten.«
»Diese Schufte!« rief ich aus, weil ich dachte, daß ein Ausruf von mir erwartet wurde.
Damit hatte ich offensichtlich unrecht. Bayard drehte sich zu mir, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Keine Schufte. Obwohl auch ich das mit vierzehn geglaubt habe und mir schwor, mich an ihnen und allen Ihrigen zu rächen. Ich war zu jung, um ihren Zorn oder meinen Eid zu verstehen. Keine Schufte, denn das gemeinste Ergebnis der Umwälzung – als die Welt zusammenbrach und das Land sich veränderte – war, daß die Armen als erste und am schlimmsten litten, Galen. Zu der Zeit, als ich meinen Eid ablegte, wußte ich davon nichts, wußte nichts von der Wut, die aufkommt, wenn man sieht, daß jemand einfach deshalb nicht hungert, weil er nicht zum Hungern geboren ist. Diese Wut lernte ich in Palanthas aus erster Hand kennen.«
»Palanthas?« unterbrach ich. »Moment mal. Ihr habt unten in Burg Vingaard Eure Eltern verloren, wart mit vierzehn ganz allein und habt dennoch den Mut und das nötige Kleingeld aufgebracht, um die einwöchige Reise durch das Vingaard-Gebirge nach Palanthas zu unternehmen?«
Auch Agion merkte jetzt auf; der Name »Palanthas« riß seine Gedanken aus dem Nirgendwo zurück in die Gegenwart. Er drehte sich um und fragte meinen Beschützer:
»Palanthas, Sir Bayard? Er war in Palanthas?«
»Ja, Agion. Und ich habe dort gelebt.«
»Dann kann Er mir vielleicht eine Frage beantworten. Ißt man in Palanthas wirklich Pferde?«
Ich hielt das für einen zentaurischen Aberglauben und wollte schon loslachen, doch dann sah ich Bayard zustimmend nicken.
»Die Armen schon, Agion, wenn sie welche erwischen. Aber das kommt selten vor, und so müssen sie von anderem leben. Ich weiß das, wie gesagt, wirklich aus erster Hand.«
Die Augen auf die Straße vor uns gerichtet, erzählte er weiter, während ich Valorus und das Packpferd ansah und mir vorzustellen versuchte, wie sie eine Tafel zierten.
»… als ich nun sicher aus der Burg geflohen war, ritt ich eine halbe Meile fort, von wo aus ich nur noch Rauch, aber nicht mehr die Flammen aus dem Wachturm sehen konnte. Dann nahm ich die Straße nach Westen, verließ das Land meines Vaters und ritt in feindliches Gelände, wie wir es früher nannten. Damals kam es mir so vor, als wäre das feindliche Gelände das Land, das ich zurückließ. Das Land, das ich geerbt hätte, wenn sich die Zeiten nicht geändert hätten.«
Er unterbrach sich und zügelte Valorus.
»Hier machen wir Rast und essen etwas. Eine Ziegenkeule kann sogar im kühlen Herbstwetter verderben, wenn man nicht vorsichtig ist.«
Was auch immer in Palanthas geschehen war und was es auch mit den di Caelas zu tun hatte, jedenfalls hatte Sir Bayard Blitzklinge gelernt zu überleben.
Während wir am Feuer saßen und die Ziegenkeule auf einem improvisierten Spieß drehten, ruhte die Geschichte. Agion stand Wache, um sofort zu melden, wenn sich jemand durch den Bratengeruch angezogen fühlte.
»Genug erzählt für heute«, beharrte Bayard. »Ihr solltet euch ausruhen.«
Ich nickte und warf dann einen Seitenblick auf Agion, der jetzt genüßlich an einem Apfel herumschnupperte und hinter uns nach Westen zum Sumpf schaute, an den er sich wahrscheinlich kaum mehr erinnern konnte.
Ich döste ein Weilchen, genau wie Agion. Bayard nahm seine Geschichte erst wieder auf, als wir wieder auf der Straße nach Südosten durch flaches, eintöniges Gelände zogen – die Landschaft, für die Küstenlund zu Recht berühmt ist. Als ich einen Falken am tiefsten Punkt des Osthimmels kreisen sah, setzte er wieder an.
»Die Reise nach Palanthas war riskant, denn das Vingaard-Gebirge ist zu jeder Jahreszeit verdammt kalt. Wäre es nicht Sommer gewesen, so wäre meine Geschichte vielleicht ganz anders ausgegangen.
Palanthas ist natürlich zu Recht für seine Reichtümer berühmt, seine Bibliothek und die Hochschulen und den phantastischen Turm, zu dem Zauberer aus ganz Ansalon reisen, um ihre Prüfung abzulegen und Unterricht zu nehmen. Wenn das alles gewesen wäre, was zu dieser Stadt gehörte – die Liebe zu Gelehrsamkeit und Weisheit – «, bemerkte er mit ironischem Lächeln, »dann wäre ich dort bestimmt willkommener gewesen.«
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