»Oh, Ihr seid wirklich die edelsten aller Seelen, Meister Bayard und Meister Galen!« rief Agion aus. »Das kann ich nicht bestreiten und würde das auch nie tun. Aber gleichzeitig sind auch Archala und die Ältesten – nun, es sind Archala und die Ältesten. Und ihnen bin ich Treue schuldig. Ich muß mein Versprechen halten.«
»Was hast du denn genau versprochen, Agion?«
Bei meiner Frage runzelte der große Zentaur die Stirn und kratzte sich mit einer Geste den Kopf, die mich unangenehm an Alfrik erinnerte.
»Wenn ich mich recht entsinne, Meister Galen, waren es genau diese Worte: Ich sollte keinen – weder den Ritter noch den Knappen – aus den Augen lassen, bis ich sie wieder in die Obhut der Ältesten zurückbringe.«
Perfekt.
»Du hast also nur versprochen, uns nicht aus den Augen zu lassen, bis du uns zurückbringst?« rief ich dem Zentauren zu, der von der Plattform zu einem nahen Vallenholzbaum geschlendert war, von dem er Blätter abrupfte.
»Ja, Meister Galen«, rief er zurück, während er eine Handvoll Vallenholzblätter in den Mund stopfte.
»Dann komm doch mit.«
Agion schluckte. »Mitkommen?«
»Mitkommen?« Bayard blieb wie angewurzelt auf der Plattform stehen.
»Warum nicht? Du weißt doch, daß man wortwörtlich gehorchen kann, Agion, nicht wahr?«
»Ja«, sagte er zögernd.
»Na also«, fuhr ich fort. »Wenn du mitkommst, Agion, hast du dein Versprechen nicht gebrochen. Es kann eine Zeit kommen – nein, es wird auf jeden Fall eine Zeit kommen –, wo unsere Unschuld selbst dem mißtrauischsten Richter klar wird. Aber bis dahin haben wir zu tun. Wozu ein Turnier in elf Tagen gehört, bei dem«, ich nickte Bayard bedeutsam zu, »unsere Anwesenheit erwartet wird.«
Jetzt wußte Agion nicht mehr weiter. Er verschränkte die Arme und scharrte mit dem rechten Vorderhuf in dem nassen Boden. Er steckte in einem Dilemma, das ich mir bestens ausmalen konnte, und wegen seiner Blödheit und seiner guten Absichten flog ihm mein Herz zu.
Agion kaufte mir meine Argumentation ab. Er nickte heftig, und sein Gesicht brach in ein dummes Grinsen aus. Plötzlich keilte er aus und erschreckte damit diverse Ziegen.
»Verstanden, Meister Galen! Wenn ich nicht mit Ihm zu meinen Ältesten zurückkehre, habe ich mein Versprechen nicht gebrochen! Also ist die beste Entscheidung mitzukommen!«Kastell di Caela war immer noch ziemlich weit entfernt. Wir mußten nach Südsüdosten und das Vingaard-Gebirge auf einem Pfad durchqueren, den Bayard kannte, dann über den Südwestausläufer der Solamnischen Ebene ziehen, den südlichsten Zufluß des Vingaard überqueren und auf halbem Wege zwischen der Furt und Solanthus anhalten. Per Luftlinie war es eine einwöchige Reise.
Leider waren wir keine Krähen, und wir würden uns sputen müssen, um die Zeit aufzuholen, die wir durch die Zentauren, Satyre und Skorpione verloren hatten. Zehn Tage, befand Bayard, und auch das nur bei gutem Wetter.
Nur mit einem Umhang und einer schmutzigen Reisetunika bekleidet, führte uns Bayard auf dem Rücken von Valorus aus dem Sumpf. Als wir schließlich offeneres, trockeneres Gelände erreichten, kamen wir zu etwas, was ich für einen kleinen Berg hielt, was sich aber als hügelige Hochebene erwies, die sich weit nach Osten erstreckte, und wo das einzig Herausstechende ein paar Wäldchen und unsere Straße waren. Auf dieser ritten wir in unseren vom gestrigen Regen verschlammten Kleidern dahin.
Es war eine hübsche, aber eintönige Landschaft.
Beim Rückblick auf das Sumpfland, das wir gerade verlassen hatten, zog ich sie doch dem verstrickten und verstrickenden Geheimnis hinter uns vor. Ich hatte noch nie so viel Land überblickt, denn ich war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Beim Zurücksehen fiel mir auf, daß der Sumpf sich veränderte, jedoch nicht durch das rasche Wachstum, das uns bei unserem Aufenthalt darin eine Quelle der Verwunderung und des Ärgers gewesen war. Jetzt wurde der Sumpf von außen her braun und welk. Ich wußte, daß das etwas mit dem Verschwinden des Skorpions zu tun hatte, aber es kam mir auch so vor, als ob unser Abschied dem Land den Herbst gebracht hatte.
Auch war der Sumpf ja nicht alles, was wir zurückließen. Ich dachte an Brithelm, der uns zum Abschied von der Plattform aus zugewinkt hatte, als wir die kahle Lichtung in der Mitte des Sumpfes verlassen hatten. Er hatte bei den Ziegen und Moskitos in seiner Eremitage bleiben wollen, um zur Ruhe zu kommen und über die Erhabenheit der Götter nachzusinnen.
Ich wünschte Brithelm nichts Böses, obwohl ich mächtig froh war, ihn los zu sein. Er war einfältig und schwer zu ertragen, aber wahrscheinlich eindeutig der Beste aus dem armseligen Wurf der Pfadwächter, mich selbst eingeschlossen. Das Problem war, daß die Welt mit einem eindeutig Besten nichts anzufangen wußte. Dort im Sumpf, wohin das Schicksal sie verschlagen hatte, waren meine beiden Brüder am besten aufgehoben.
Dennoch erinnerte ich mich wehmütig an den Abschied, als mein seherischer, mittlerer Bruder von Ziegen umringt gefährlich nah am Rand der rutschigen Plattform stand und uns dreien hinterhersah.
»Sieh den Dingen nicht direkt ins Auge, Bruder, denn die Einsicht lebt im Augenwinkel«, schrie er uns einen letzten Rat für die Reise zu.
»Was soll das heißen, heiliger Mann?« rief Agion zurück, doch Brithelm hatte uns schon den Rücken zugekehrt und war in der baufälligen Hütte verschwunden.
Bei meinem letzten Blick auf Brithelm, bevor er durch die wacklige Tür verschwand, hatte er etwas Silbernes aus der Tasche gezogen und an die Lippen gesetzt.
Humas Hundepfeife.
Von überallher kamen Ziegen zur Hütte geströmt.
Ich saß auf Agions Rücken, und etwas bedrückt wandte ich mich nach vorn – nach Osten, zur Zukunft meiner Reise.
»So ist es besser, Galen«, sagte Bayard, und ich hatte keine Ahnung, was für ein Tadel mich jetzt erwartete. »Schau lieber nach vorn, als zurück, denn hinter dir liegen Treibsand und Morast, die leicht deine besten Absichten verschlingen können.«
Was war das denn? Wußte er über Alfrik Bescheid? Ich schwieg und betete heimlich, daß die Ehre, die er so schätzte, ihn davon abhalten würde, zu vermuten – oder gar zu glauben –, daß ich meinen Mistkerl von Bruder hatte ersaufen lassen.
Aber, nein, das war nur ein bißchen Philosophie zum Auftakt einer langen, verworrenen Geschichte mit Thronräubern und viel Gewalt, die mir zeigen sollte, wie unmenschlich Menschen sein können. Zeitweise würde sie sogar ein bißchen interessant werden, aber mitunter sollte ich mir wünschen, Agions Talent, völlig abzuschalten, zu besitzen. Doch diese Geschichte muß erst noch erzählt werden.»Das dritte Kapitel im Buch von Vinas Solamnus, dem langen Text, der nur in der Bibliothek von Palanthas vollständig erhalten ist, befaßt sich mit dem Schicksal der Familie di Caela – von dem Zeitpunkt ab, wo sie auf geheimnisvolle Weise durch Paladins Tore aus dem Norden kamen. Von dem Zeitpunkt ab, als der Begründer der Linie, der alte Gerald di Caela, sich Vinas Solamnus anschloß und sein Name in die älteste und ehrwürdigste Ritterschar aufgenommen wurde.«
Genau wie die Blitzklinges, die auch schon früh dazugehört hatten und stolz darauf waren.
Wohingegen die Pfadwächter, wie ich wußte, Nachzügler waren. Bayard war viel zu höflich, um das zu erwähnen, jedoch hatte man uns schon frühzeitig eingetrichtert, wie es unser Leben beeinflussen würde, daß wir nicht zu dem Dutzend oder so der ältesten Sippen gehörten.
»Und so gedieh die Familie geehrt und berühmt über tausend Jahre lang, bis vor ungefähr vierhundert Jahren der Titel – der Name di Caela, sozusagen der Pater familias – an einen Gabriel di Caela fiel. Der alte Gabriel hatte anscheinend drei Söhne. Der älteste hieß Dunkan, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, und der jüngste war auch ein Gabriel. Aber es ist Benedikt di Caela, der mittlere Sohn, der im Zentrum dieser düsteren, bedrückenden Geschichte steht – von Geburt an durchs Schicksal enterbt.«
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