Agion beugte sich beim Gehen vor, rieb sich die knorrigen Hände und lächelte. »In den alten Sagen«, erklärte er, »erhält der mittlere Sohn meist eine besondere Gabe. Am Anfang sieht es so aus, als ob er wenig bekommt, doch am Ende hat er das beste Erbe von allen.«
»Aber was wir jetzt hören, ist wahre Geschichte, Agion«, unterbrach ich ihn, »wo der mittlere Sohn wahrscheinlich der ist, der einfach übergangen und ausgelassen wird, wenn diesem Dunkan aus Sir Bayards Geschichte nicht ein vorzeitiges Unglück widerfährt. Außerdem ist es gewöhnlich der Jüngste, der im Märchen am meisten beschenkt wird, weil er im richtigen Leben am wenigsten bedacht wird.«
Bayard setzte sich im Sattel zurück und schlug gegen den kalten Nachmittagswind die Kapuze über. »Ihr liegt beide falsch«, stellte er kurz angebunden fest. »Vielleicht solltet ihr besser zuhören, anstatt eure haarsträubenden Theorien über Gerechtigkeit weiter auszuspinnen. Die Geschichte dieses Benedikt also«, nahm er den Faden wieder auf, wobei er die Zügel in die andere Hand nahm, »begann mit Neid, und soweit ich weiß, endet sie auch damit. Er wollte seine Brüder unbedingt aus dem Weg räumen, dort im Schloß des alten Gabriel – dem Kastell di Caela, wie es genannt wurde.
Dort schmiedete der junge Benedikt seine Pläne, ›die Gedanken giftdurchtränkt‹, wie das alte Buch von Vinas Solamnus sagt. Aber zur damaligen Zeit hatten die Kleriker von Mishakal Möglichkeiten, die Ausbreitung von Gift zu verhindern und seine Wirkung sogar umzukehren. Selbst wenn sie zu spät kamen und das Giftopfer tot vor ihnen lag, so daß sie es weder heilen noch wiederbeleben konnten, konnten sie immer noch das Gift aus dem Blut isolieren, seine Bestandteile bestimmen und feststellen, wann es verabreicht wurde, und wer es gemischt hatte.
Wenn das nichts half, konnten sie die Toten reden lassen und so den Mörder finden. Also wurde der junge Benedikt jahrelang nur im Traum zum Giftmischer, denn er war viel zu feige, um einen offenen Mord zu begehen. Statt dessen saß er abseits, brütete vor sich hin und wälzte Rachepläne. – Das größte Gift ist zweifellos der Neid«, verkündete Bayard, wobei er mich betont anstarrte und damit eine Antwort forderte.
»Nun, Sir, ich würde Schierling ein stärkeres Gift nennen, denn neidische Männer leben meines Wissens jahrelang. Aber ich bin kein Apotheker und für Chemie nicht begabt.«
»Und auch nicht für Metaphern«, gab Bayard zurück, um dann seine Geschichte wieder aufzunehmen.
»So hat sich Benedikt dort in diesem Schloß gewissermaßen – metaphorisch gesehen – selbst vergiftet, indem er seinen Gedanken freien Lauf ließ. Und wenn jemand so durch und durch in Wort und Tat vergiftet ist, kann er auch nur vergiftete Entdeckungen machen. Jede seiner Berührungen ist wie Gift.«
»Wie beim Skorpion?« fragte ich und wünschte mir augenblicklich, ich könnte diese Worte zurücknehmen. Denn ich hatte meinem Fluch in diesem Moment einen Namen gegeben und enthüllt, daß ich mehr über den Mann in Schwarz wußte, der die Wasserburg und den Sumpf heimgesucht hatte. Mehr als ein ehrlicher Junge wissen durfte. Ich senkte den Kopf und schloß die Augen.
Aber ich hörte Agion hinzufügen: »Oder wie bei der Viper.« Als ich aufblickte, sah ich Bayard zustimmend nicken.
»Oder wie bei den giftigen Wesen aus Legende und Geschichte, Agion. Ja, man könnte sagen, daß Benedikt gewissermaßen eines dieser Wesen war.
Denn das Gift hatte ihn vollkommen durchsetzt, bis selbst Gegenstände, die er zum Besten aller hätte verwenden können – die ihm vielleicht wirklich ein Erbe hätten einbringen können, das weit über das seiner Brüder hinausging –, in seinen Händen statt dessen zu monströsen, verfluchten Dingen wurden. Wie bei dem Pendel.«
Pendel? Da war doch was…
»Gefunden hat er es«, erzählte Bayard, »im Keller von Kastell di Caela, das er so begehrte, während er in der Dunkelheit nach einem Ort suchte, wo er seine abstrusen und immer verrückteren Illusionen üben konnte. Er drückte das Pendel an sich und vergaß es für eine Zeitlang. Das heißt, bis er es ans Licht schaffte und in seine Räume oben im Schloß brachte. Dort zog er es aus den Falten seiner Robe und sah es zum erstenmal an. Die Kette war aus Gold, und der Anhänger der Kette war ein Kristall.«
Ein Kristall. Bayards Worte trafen mich wie das Licht von hundert Sternen in der Dunkelheit. Ich erinnerte mich an den Sumpf, die Lichtung, die Ziegen, die vielen Feuer…
»Und als das Pendel vor seinen Augen baumelte, dachte Benedikt seine giftigen Gedanken, träumte seine Träume von Unfällen. Als er durch den Kristall sah, wuchs eine Spinne in der Ecke des Zimmers zu unnatürlicher Größe und Gestalt heran…«
Wie die Ziegen, die sich plötzlich widernatürlich in Satyre verwandelt hatten.
»Und wäre gewiß aus ihrem Netz gekrabbelt und hätte ihn vergiftet, wenn er nicht noch einmal hingesehen und erkannt hätte, was das Tier wirklich war – die ganz normale Spinne, die er schon zwei Tage in der Ecke des Zimmers beobachtet hatte.«
Bayard legte eine Pause ein und sah Agion an.
»Diese Geschichte von der Spinne erklärt den Fluch der di Caelas – oder gibt zumindest den uns bekannten Ursprung an.«
Ich war baff.
Nein! Bestimmt hatte diese alte Kamelle aus dem Buch von Vinas Solamnus nichts mit dem zu tun, was ich vor zwei Nächten auf der Lichtung im Sumpf beobachtet hatte. Bestimmt hatten die Bücher nichts…
Bayard nahm seine Geschichte wieder auf.
»Durch diesen zufälligen Blick wußte Benedikt also, daß das Pendel ein Instrument der Macht war. Aber woher stammte es? Darüber sind sich die Historiker uneinig.
Manche sagen, ein Kender hätte es fallen lassen, der es Gott weiß wo gefunden hatte, denn Kender gab es damals wie heute. Manche meinen, das Pendel sei durch Zufall oder durch einen großen, bösen Plan aus dem Eckstein des Schlosses freigekommen, wo es Generationen hindurch verborgen lag, um auf jemanden zu warten, der so neidisch und so verschlagen war, daß er es seiner Bestimmung gemäß verwenden konnte. Aber natürlich gibt es viele derartige Legenden auf Krynn.
Spielt das wirklich eine Rolle? Denn am Ende war es dasselbe, ob Benedikt nun aus dem Bösen heraus handelte, das durch seine eigene Unzufriedenheit, seinen Neid und seine eigenen frühen, dunklen Studien in ihm gewachsen war, oder ob er als Instrument eines größeren Bösen handelte, das in die Geschicke der Welt eingriff.
Kleines oder großes Böses, auf jeden Fall nahmen die Ratten im Keller neue, monströse Formen an, als Benedikt das Pendel aus Gold und Kristall vor seinen Augen schwang. Der Legende nach suchten sie auf Benedikts Befehl hin Dunkans Zimmer auf, und als der alte Gabriel die Schreie seines Ältesten hörte und zu seiner Rettung stürmte, bot sich ihm eine so unaussprechlich grauenvolle Szene dar, daß die Geschichten vor dem genauen Bericht zurückscheuen.
Doch dieselben Historiker bestätigen, daß Dunkans Körper nicht eine Schramme aufwies, sondern daß er so unversehrt und schlicht dalag, daß die Einbalsamierer ihre groteske, unschöne Aufgabe nicht durchführen wollten, weil sie Koma, Lähmung oder Scheintod befürchteten. Aber er war wirklich tot, und die Kleriker von Mishakal konnten weder Wunde noch Gift entdecken.«
Wie bei den Zentauren aus Agions Erzählung.
»Gabriel der Jüngere jedoch witterte sozusagen eine Ratte«, lächelte Sir Bayard und hob die Hand. »Er war in der Nacht, wo Benedikt das Pendel entdeckt hatte, am Fuß der Granatberge auf der Jagd gewesen – in der Nacht, die seither in Solanthus und den umliegenden Teilen von Solamnia als ›Nacht der Ratten‹ bekannt ist.
Obwohl die Kleriker in Dunkans Zimmern nichts fanden, was auf Verrat hinwies, wußte Gabriel der Jüngere, daß es Verrat war, und benachrichtigte seinen Vater, daß die Kleriker von Mishakal Dunkan von jenseits der Finsternis sprechen lassen sollten.
Читать дальше