Der Rachedurst fraß an ihm wie ein schwärendes Siechtum, wuchs immer mehr und wurde zur Besessenheit. Das Erscheinen dieser kranken rothaarigen Söldnerin, einer Ausländerin, erschien ihm wie ein rätselhaftes Symbol, das er noch nicht deuten konnte. Ganz gewiss war es ein Omen, ein dringend benötigtes Omen der Hoffnung. Er würde es nicht missachten oder daran zweifeln, nicht jetzt. Denn nun war ihm klar, wie viel er in den vergangenen neun Monaten durch Sorglosigkeit, ja Dummheit, übersehen hatte, wo doch ein offenes Auge, ein scharfes Ohr, ein bisschen Überlegung ihn vor der drohenden Zukunft hätte warnen können.
Verärgert schüttelte er den Kopf, stand auf und streckte sich. Er war entsetzlich müde, erschöpft, aber seine unruhigen Gedanken vertrieben den Schlaf. Leise ging er zur Roten Sonja und blickte gedankenverloren auf sie hinunter. Er murmelte ein kurzes Gebet zu den Göttern und bat sie, dass ihr Kommen Gutes bedeute und er ihr Zeichen verstehen würde.
Neben Sonja lagen zwei Verwundete. Auch zu ihnen ging Omeron. Er kniete sich zwischen sie, legte vorsichtig die Hand auf ihre Stirn und fühlte nach ihrem Puls. Der des einen war schwach, der andere hatte keinen mehr.
Noch einer seiner Leute weniger! Ein weiteres Leben, das Du-jum und Yarise ihm schuldeten. Ischtar und Eliel! Seine eigene Frau!
»Bringt sie mir, ihr Götter!« murmelte er. »Bringt sie mir und lasst mich sie erdrosseln, ganz langsam. Lasst diese verzweifelten Männer sie in Stücke reißen, lasst sie sterben und bringt sie ins Leben zurück, damit sie einen Tod für jeden erleidet, der ihretwegen sterben musste. Ihre Opfer! Ja, auch meine Opfer. Denn ich bin kaum weniger schuldig!«
Von seinem Gewissen gequält, ging er weiter, vorbei an den Verwundeten, bis er zu einem Posten kam. Der Mann salutierte. Omeron flüsterte ihm kurz etwas zu. Der Soldat verstand nicht.
»Geh schon!« drängte Omeron. »Ruh dich aus! Ich kann nicht schlafen. Ich halte Wache für dich.«
Der Mann zögerte. »Ich bin in Ordnung›Lord. Wirklich …«
»Keiner von uns ist in Ordnung. Also sieh zu, dass du ein bisschen Schlaf kriegst. Heute Nacht passiert nichts mehr. Es wird überhaupt nichts geschehen, bis … bis wir selbst etwas unternehmen!«
»Wie … Ihr wollt, Lord Omeron.«
Salutierend, dann gähnend schritt der Soldat davon. Omeron wandte sich von ihm ab und blickte hinunter auf die gespenstischen Lichter von Thesrad.
Hinter ihm keuchte der Soldat erschrocken auf.
Sofort wirbelte Omeron herum. »Was ist los?«
Der Mann deutete auf den dichten Wald an einer Seite, auf Dickicht und Unterholz, zum Teil hinter Felsen verborgen und ganz von der Nacht eingehüllt.
Leise schritt Omeron auf den Soldaten zu und legte schweigengemahnend einen Finger auf die Lippen.
Der Mann zitterte vor Anspannung. Er zog sein Kurzschwert und deutete damit auf den dunklen Wald. Omeron legte eine Hand auf des Soldaten Schulter und spähte in die gewiesene Richtung. »Was?« wisperte er. – »Ein Geräusch. Etwas.«
»Bist du sicher?«
Lange Augenblicke der Stille, der Dunkelheit und des Stöhnens und Schnarchens Schlafender. Niemand sonst schien etwas bemerkt zu haben. Schleier schoben sich vor Omerons Augen, weil er so angestrengt spähte. Er hatte das Gefühl, nicht einmal mehr sicher zu sein, ob er überhaupt noch lebte, geschweige denn, dass er etwas gehört …
»Horcht!« zischte der Soldat.
Omeron machte einen leisen Schritt vorwärts. Ja, zweifellos bewegte, sich etwas im Wald, und es verursachte ein schwaches Geräusch.
»Indra!« hauchte der Posten. Seine Stimme verriet die Angst. »Es ist Du-jum!«
»Nein.«
»Es ist Du-jum, mein Lord. Bestimmt ist es er!«
»Nein!« Omerons gedämpfte Stimme klang streng.
Ein Posten in der Nähe, der sie beobachtet hatte, kam nun auf sie zu. Omeron bedeutete ihm, leise zu sein, und ging, vorsichtig über Schlafende steigend, ein Stück weiter.
»Etwas!« flüsterte der erste Posten dem zweiten zu.
Omeron blieb stehen und zog sein Schwert.
Der Mond brach durch eine Wolkenbank und warf seinen hellen Silberschein über das Lager, doch das Licht drang nicht durch das dichte Dickicht. Omeron schlich weiter.
Wieder das Geräusch – ein ganz leises Rascheln. In Gedanken bewunderte Omeron die scharfen Ohren des Soldaten.
Die beiden Wachen durchquerten das Lager, nahezu auf ihres Lords Fersen, bis die drei nebeneinander anhielten und versuchten, das Dickicht mit den Blicken zu durchdringen.
Wieder das Geräusch!
»Du-jum!« schrie der erste Posten gellend und sprang plötzlich vorwärts.
Omeron brüllte den Mann an und rannte hinter ihm her, ohne die Augen vom Wald zu nehmen. Der Soldat, der mit erhobenem Schwert dahinsauste, stolperte über einen schlafenden Kameraden und fiel auf den Bauch. Omeron konnte ihm gerade noch ausweichen. Auch jetzt behielt er den Wald im Auge. In der plötzlichen Unruhe im Lager würde das Rascheln im Dickicht lauter, und Omeron glaubte zwei Lichter, glühenden Kohlen ähnlich, zu sehen, die aufgestört in der Dunkelheit verschwanden.
Kalter Schweiß stand ihm auf Gesicht und Armen.
»Habt Ihr es gesehen?« rief der erste Posten.
»Mitra!« hauchte der zweite.
Nun war offenbar das ganze Lager wach. Verschlafen setzten die Männer sich auf und riefen fragend durcheinander. Wachen von der gegenüberliegenden Lagerseite rannten herbei, um Lord Omeron zu helfen. Der Tumult wurde immer größer.
»Wir werden angegriffen!«
»Es ist der Zauberer!«
»Sie haben uns aufgespürt!«
»Zu den Waffen!«
Ergrimmt brüllte Omeron seine Männer an; versicherte ihnen, dass sie keineswegs angegriffen würden, sondern nur ein Tier sich gerührt habe, kein zauberwirkender Unhold. Doch es dauerte eine Weile, bis sie endlich auf ihn hörten; und erst nachdem er auf einen Felsblock geklettert war, eine Fackel hochhielt und schrie, dass ihre Erschöpfung und ihre Träume die Ursache ihrer Angst seien, nicht Du-jum, hatte er sie halbwegs überzeugt.
»Er wartet darauf, dass wir ihn angreifen!« brüllte er. »Hört mir zu, Männer! Hört endlich! Es war ein Tier im Wald – ein Tier, oder ein Traum!«
Schließlich beruhigten sie sich allmählich, hörten wirklich auf ihren Herrscher, und Vernunft kehrte zurück. Der Mond verzog sich wieder hinter die Wolken, ein Wind kam auf, und die Sterne verblassten im Osten.
Die Soldaten gingen zurück zu ihren Posten, Decken oder Feuern.
Omeron stieg vom Felsblock hinunter und blickte auf den Soldaten, der den Tumult ausgelöst hatte. Der Mann schämte sich, er wich seinen Augen aus, und Omeron brachte nicht den Grimm auf, ihn zurechtzuweisen.
Im Lager setzte Ruhe ein, und Omeron kehrte zur kalten Asche seines Feuers zurück. Er ließ sich auf einen Stein nieder, stemmte die Füße auf den Boden und stützte das Kinn auf die Fäuste. Um ihn herum wisperten, lachten und unterhielten sich die Männer, die keinen Schlaf mehr finden konnten.
Omeron betrachtete wieder die Rote Sonja. Der Lärm hatte sie nicht geweckt, oder wenn, hatte sie vielleicht unbewusst angenommen, dass er Teil ihrer Fieberträume war, und nicht die Kraft aufgebracht, sich zu vergewissern.
Erneut beobachtete er sie und fragte sich wieder, ob sie als Symbol oder rätselhafte Botschaft der Götter anzusehen sei. Und langsam wanderte sein Blick unwillkürlich zu dem Dickicht am Waldrand, um nach den gelben Augen Ausschau zu halten.
Gelbe Augen …
Sein Herz pochte heftiger, alte Ängste griffen nach ihm, Schreie gellten stumm in ihm. Yarise spottete seiner, geduldig, endlos.
Gelbe Augen!
Ganz bestimmt die Augen eines Tieres. Aber war er wirklich sicher, dass es Tieraugen waren? War dieses Augenpaar im dunklen Dickicht das eines natürlichen Waldgeschöpfs? Wenn nicht, wessen dann? Welcher, Art waren diese Augen?
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