»Urmu! Töte meine Tochter und ihre Diener! Ordara ento empori! Töte sie!«
Unter eingestürzten Wänden und Säulen krochen die vielartigen Reptilien herbei und quollen über alle Hindernisse.
»Urm …!«
Wie ein belebter Sumpfstreifen, wie eine Fleisch gewordene Welle brennender Wut rächten sie sich – beißend, kratzend, drückend –, und als sie Du-jum erreichten, fielen sie über ihn her.
Der Hexer fuchtelte mit den Armen und schrie gellend, als die Schlangen sich um ihn wanden, ihn bissen, in seine Wunde krochen, sich um seinen Hals wickelten. Weitere Wände schwankten und stürzten nach innen, alles Licht erlosch, und ein donnerndes Krachen verkündete den endgültigen Zusammenbruch des großen Tempels von Urmu, des Todesvogels.
Dann ragte nur noch Du-jums Hand aus dem Trümmerhaufen heraus und aus dem wogenden Meer von Reptilien, von denen ebenfalls viele zermalmt worden waren. Das Dach war eingebrochen und hatte mit seiner uralten Geschichte von Leid und Qualen und Blut den Mann begraben, der sich selbst Fürst der Hölle genannt hatte.
Als letztes stürzte ein eiserner Gong auf einen Stein und verkündete mit seinem dumpfen Schlag das Dahinscheiden des finsteren Hexers.
Die Leichen wurden zusammengetragen und alsbald verbrannt, und Jubel herrschte unter den Thesradern. Begeistert ließen sie ihren Fürsten hochleben.
»Omeron! Omeron! Omeron!«
Der Herrscher von Thesrad trat aus seinem Palast und schaute im düsteren Licht des beginnenden Morgengrauens auf die schwelenden Scheiterhaufen, die noch herumliegenden Toten, die blutbesudelte Menschenmenge, die ihre zum Teil sehr ungewöhnlichen Waffen schwenkte, und ihm wurde so richtig bewusst, was es seine Untertanen gekostet hatte, die Stadt zu verlieren und wiederzugewinnen. Da sank er auf den blutigen Steinen des Portikus auf die Knie und weinte …
Als er sich nach einer Weile wieder zu fassen vermochte, sah er Elath, den Zauberer, neben sich stehen, dessen Augen in dem schwachen Licht gelb leuchteten. Auch Sonja und Ilura hielten sich in der Nähe auf.
»Lord Omeron«, drängte Elath, »wir sollten sofort zum Tempel des Geiers eilen.«
»Warum?« erkundigte sich Sonja. »Glaubt Ihr, Du-jum lebt noch?«
»Bei einem Hexer mit seinen Kräften kann man das nie wissen!«
Omeron runzelte zweifelnd die Stirn. »Aber meine Soldaten versicherten mir, dass keiner im Innern den Einsturz des Tempels überlebt haben kann.«
»Vermutlich nicht. Doch wie auch immer, wir müssen den Dolch finden, den er mit sich nahm, und ihn zu dem Tor zurückbringen, das er versiegelte. Die Uralten regen sich nicht oft im Schlaf, doch sollten sie es tun nun, ich bin überzeugt, Lord Omeron, dass Ihr nicht gern ein unversiegeltes Tor unter Eurer Stadt hättet.«
Diese Worte beunruhigten Omeron sichtlich. Er erteilte zwanzig Soldaten den Befehl, seinen kleinen Trupp zu begleiten. Auch Sonja fühlte sich nach Elaths Bemerkung unbehaglich.
Als sie die Tempeltrümmer erreichten, brach der neue Tag an, doch auch sein noch gedämpftes Licht zeigte nicht mehr als einen wirren Haufen grauer Steine.
»Es ist vollbracht«, murmelte Ilura. »Ich spüre seinen Geist nicht mehr. Er liegt unter dem Tempel begraben.«
Noch immer zogen sich dichte Massen von Reptilien auf den Straßen zurück. Einige waren verwundet und ließen Blutspuren auf dem Ziegelpflaster zurück.
»Ich muss zu ihnen«, erklärte Ilura, »und mit Hilfe Sithras und des Ixcatlzepters so viele ihrer Diener heilen, wie es möglich ist.« Mit diesen Worten schritt die Schlangenfrau im rötlichen Licht des frühen Morgens die verwüstete Straße entlang.
»Wir sollten ihn neu aufbauen«, sagte Omeron, doch offenkundig, ohne selbst so recht davon überzeugt zu sein. »Als Sithratempel…«
»Nein.« Sonja schüttelte den Kopf. »Errichtet keine weiteren Tempel mehr auf diesem Land, Omeron.«
Der Boden erzitterte, als Teile einer Wand einstürzten und innerhalb des Tempels Steine herabkrachten und der Boden nachgab, während weitere Trümmer fielen.
»Ihr habt recht.« Omeron nickte. »Wenn wir Glück haben, öffnet sich vielleicht die Erde und verschluckt das Ganze.«
»So wird es geschehen, Fürst«, versicherte ihm Elath.
Sonja bemerkte, dass das geheimnisvolle Licht seiner Augen stärker brannte. »Sagt Euch das Euer Zweites Gesicht, Zauberer?«
»Ich fühle ungeahnte Höhlen unter dem Tempel des Todesvogels«, antwortete er. »Vielleicht sogar ein weiteres versiegeltes Tor zu den Höllen. Es ist gut, wenn solche Höhlen aufgefüllt werden. Ich sehe die Ruinen während der nächsten Monate weiterhin nach innen einstürzen. Kein Thesrader wird sich aus freiem Willen in diese Gegend begeben, ‚selbst lange nachdem Lord Omeron den Rest der Stadt wiederaufgebaut hat.«
»Und Du-jum?« fragte Sonja.
»Tot, wie Ilura es spürte. Es ist wahrhaftig eine Ironie. Die Götter, ob die des Lichtes oder der Finsternis, ob gerecht oder ungerecht, ob ernst oder verspielt, müssen nun vermutlich lachen – denn ich fühle ohne Zweifel, dass tief unter dem Tempelfundament ein uralter Gang liegt, einer von jenen, die Du-jum so verzweifelt suchte, um zu den Höllen zu gelangen und dadurch zu seinen eigenen finsteren Schicksalsgöttern. Und eines Tages, in absehbarer Zeit, wird er mit dem einstürzenden Tempelboden in diesen Gang fallen und eine Ewigkeit, unter Trümmern begraben, ganz nahe bei diesem Eingang zu den Höllen ruhen, den zu finden er sich so sehr ersehnte.«
»Was wisst Ihr über jenes andere Tor?« fragte Omeron besorgt.
»Das unter dem Palast? Das durch die Entfernung des Dolches nun unversiegelt ist? Ja, wir müssen in der Tempelruine nach dem Dolch suchen …«
Er unterbrach sich, als er Ilura herbeikommen sah, und er staunte über ihren Begleiter: Neben ihr her lief wie ein folgsamer Hund ein Waran.
Elath deutete in ihre Richtung. »Seht, Lord Omeron! Das Problem, über das wir soeben sprachen, ist gelöst!«
Sonja und der Fürst hatten es bereits selbst bemerkt, und beide atmeten erleichtert auf. Mit den Zähnen hielt der Waran den Dolch der Alten: das Siegel, das das ungeschützte Tor zu den Höllen wieder sichern würde.
Am nächsten Abend, nachdem Omeron und seine Untertanen mit dem Wiederaufbau der Stadt begonnen hatten, traf Verstärkung von Ribeth ein. Der Herrscher von Ribeth, Fürst Sentharion selbst, führte die vier großen Kohorten an. Zwar kamen sie zu spät, um bei der Vernichtung von Du-jums Schreckensherrschaft mitzuhelfen, doch erboten sie sich sofort, beim Wiederaufbau mitzuwirken.
Omeron lud die ganze Stadt zu einem großen Fest ein. Es gab noch genügend Vorräte, und außerdem Rinder, Ziegen und Pferde. Zwei Nächte wurde im taghellen Fackelschein durchgefeiert. Es wurde gesungen und getanzt, und alle waren fröhlich. Omeron hielt Reden, und wenn er von dem Überstandenen sprach, kamen ihm die Tränen. Sentharion schwor, Thesrad auf jede nur mögliche Weise zu helfen.
Die paar Thesrader Edlen, die überlebt hatten, saßen an der großen Bankettafel mit Omeron, Sentharion und dessen Edlen, Sonja, Kiros, Endi und Elath. Doch vermied man hier, von den Grauen der kaum vergangenen Zeit zu sprechen – Grauen, die zu frisch waren, als dass über sie zu sprechen Erleichterung gebracht hätte.
Aspre, der nach Du-jums Tod herbeigekommen war, saß ebenfalls an Omerons Tafel. Er schwor, alle jene, die sich dem Anderen Pfad verschrieben, bekehren zu wollen, indem er ihnen klarlegte, was sich Schreckliches in Thesrad getan hatte. Er trauerte offen um seine Freunde, denen die Kraft gefehlt hatte, sich den Verlockungen Du-jums erfolgreich zu widersetzen. Er freute sich sehr, als er erfuhr, dass Elath noch lebte, und die beiden begrüßten sich voll Dankbarkeit.
Omeron hatte Elath gebeten, als sein Berater in übernatürlichen Angelegenheiten am Hof zu bleiben, und der junge Zauberer hatte sich einverstanden erklärt.
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