Sie ging weiter zur Treppe. Sonja und die Thesrader wichen an die Wände zurück, um nicht mit dem grässlichen roten Netz in Berührung zu kommen, das hinter ihr in der Luft herschwebte.
Nacht – eine klare Nacht mit Mond und Sternen und einer kühlen Brise, die durch die Bäume strich. Im Turm aßen und tranken hungrige, verwundete Soldaten die letzten Reste ihres Mundvorrats.
Ilura, die sich allein in ihrer Kammer aufhielt, bewirkte ihre Magie. Sie spann Blut wie Ranken einer wachsenden Pflanze und fügte immer weitere Augäpfel daran, je länger der Strang wurde.
Aus dem blutroten Netz heraus übte sie den Zauber aus, und der Strang, der nur straff gespannt war, schillerte. Langsam schwebte er durch die Luft, hinaus aus dem einzigen Fenster der Kammer, die Palastwand entlang. Er suchte mit seinen eigenen Augen, doch mit Iluras Sinnen, Du-jums Gemächer. Und die Schlangenfrau lauschte – mit Elaths Ohren – nach möglichen gegen sie oder ihre Verbündeten gerichteten Beschwörungen.
-»Hat er uns aufgespürt, Zauberer?«
Nein, Schlangenfrau. Du-jum ist noch schwach. Erahnt nichts von Eurem Kommen.
»Dann haltet Eure Gedanken ruhig, außer es gibt etwas, das Ihr mir mitteilen müsst.«
Schillerndes Menschenblut, zu Zauberfäden gesponnen und zum Strang geflochten, tastete sich eine Palastwand entlang, auf der Suche nach einem Hexer, im Auftrag seiner Tochter, seiner Feindin, und das in einer alten Stadt mit einer uralten magischen Vergangenheit, einer Stadt, die von ihren finsteren Eroberern halb verwüstet war.
Die Strahlen des aufgehenden Vollmonds spiegelten sich auf den Schuppen unzähliger Reptilien, die durch die verlassenen Straßen der Stadt glitten und krochen – und die auf zahllose dunkle Geflügelte fielen, die unter Giebeln, in Erkern und auf Dächern kauerten, als warteten sie nur auf einen Befehl.
Langsam bewegte Ilura ihr Blutnetz, lenkte den Strang mit ihrem sorgfältig ausgebildeten Schlangenverstand die Ziegelwand hinab – und ins Fenster von Du-jums Schlafgemach.
Aspre, der auf der dem Fenster gegenüberliegenden Bettseite stand, bemerkte ihn als erster. Einen Augenblick beobachtete er ihn stumm, völlig hingerissen, und plötzlich kam er sich auf schicksalhafte Weise wie ein Auslöser von schrecklichen Gräueltaten vor, da er mit seinen Kameraden in diese dem Untergang geweihte. Stadt gekommen war. Neben ihm stand Sus, und an der anderen Bettseite hielten Ahm und Piram Wache.
Piram sah den dünnen Blutfühler als zweiter.
»Aspre!«
»Ich sehe es …«
Du-jum setzte sich auf. Seine Augen weiteten sich vor Furcht und Zorn. »Haltet es auf! Aufhalten! Meine Tochter schickt es!«
Wie von einer leichten Brise bewegt, kam der Strang langsam in das Gemach. Die daran befestigten Augen schimmerten schwach im Schein der Öllampen. Suchend schaute sie sich um …
Piram trat einen Schritt darauf zu. Er hob die Arme und zeichnete in vorbereitendem Ritual Kreise und Rechtecke in die Luft, ehe er einen Silberdolch aus seinem Gürtel zog. Dann ging er damit zu dem vorderen tastenden Blutfühler, hob die Klinge und ließ sie hinabsausen. Doch kaum berührte sie das Netz, schrie er grauenerfüllt auf, denn das Blut schien zu bersten und hüllte ihn wie mit einem roten, glühenden Dunst ein.
Er stürzte würgend zu Boden, krallte die Finger in seine Kehle und strampelte mit den Beinen. Der Dolch fiel nicht mit ihm. Auch um ihn wand sich roter Dunst, und während ein Blutfühler kurz aufrecht ragte, verdichtete der Dunst um das Messer sich zu einem kürzeren, abzweigenden Fühler, der drohend die Klinge schwenkte und sich damit dem Bett zuwandte. Das rote Leuchten um Piram wurde schwächer, als es sich seine Kehle hinabzog. Des Zauberers Bauch schwoll an, seine Brust hob und senkte sich schwer, und schließlich blieb er erdrosselt liegen.
»Narr!« schrie Du-jum. Er versuchte aufzustehen, doch die Anstrengung war zu groß, und er fiel wieder auf den Rücken. »Dieses Ding ist hinter dem Zepter her! Haltet es auf!«
Aspre rührte sich immer noch nicht, nur sein Blick wanderte von Ahm zu Sus. Die beiden bewegten sich bereits aus zwei verschiedenen Richtungen auf den Fühler zu und zogen dabei ihre Dolche.
Ahm hatte erst wenige Schritte gemacht, als der kurze. Fühler das Messer hob und warf. Ehe der junge Zauberer auszuweichen vermochte, grub es sich bereits in seine Stirn, und er sackte tot zusammen.
Sus, der annahm, dass Iluras Willenskraft nachließ, sprang vorwärts und schwang mit einer Verwünschung auf den Lippen seine Klinge. Der Blutfühler glitt in der Luft zurück, doch nicht rasch genug. Die Klinge trennte einen Augapfel ab. Dieser flog blutspritzend durch die Luftgeradewegs in Sus’ offenen, brüllenden Mund.
Grauenerfüllt wich Sus zurück. Ihm war, als schwelle das Auge in seiner Kehle ungeheuerlich an und raube ihm den Atem. In panischer Angst warf er sich zur Wand zurück, doch dann fasste er den letzten Rest Mut und versuchte, den Blutfühler doch noch zu durch trennen.
Er wob sich einen Pfad von ihm fort und ließ einen leichten rötlichen Dunst in der Luft zurück.
Wahnsinnig vor Schrecken legte Sus den Kopf nach hinten und steckte die Finger in den geschwollenen Hals, als könne er so den aufgedunsenen Augapfel herausreißen. Blutspritzend kippte er nach vorn, und das Blut stieg als rosiger Dunst auf, genau wie Pirams und Ahms, sobald es aus den Leibern quoll. Es schloss sich dem roten Fühler an, der dadurch kräftiger und länger wurde und sich bereits einem hohen Bücherregal neben dem Fenster näherte.
»Aufhalten!« würgte Du-jum und bemühte sich erneut aufzustehen.
Doch Aspre murmelte lediglich: »Haltet Eure Tochter selbst auf! Durch Euch verlor ich alle meine Freunde, ohne eine Gegenleistung von Euch. Ihr seid zu schwach, jetzt gegen mich zu kämpfen oder mich zu töten, darum bin ich nun frei. Euer Ende ist nah, Du-jum, und das ist gut so. Wie sehr ich bedauere, dass ich den Schatten des Todes, der Euch umgibt, nicht eher spürte. Ich verlasse Euch jetzt. Ich werde die Götter anflehen, mir meine Schuld zu vergeben. Und ich werde Euer Bild in einer Schale Wein herbeibeschwören, damit ich miterleben kann, wenn Ihr in die Hölle eingeht.« Er drehte sich um und ging zur Tür.
»Nein!« heulte Du-jum hinter ihm her. Dann, als Iluras aus Blut gewirkter Diener die Bücher aus dem Regal warf, die Rückwand herausriss und zu dem kleinen Kasten dahinter gelangte, kreischte er: »Halt! Halt!« Er versuchte, Aspre einen Zauberbann nachzuschicken, doch es gelang ihm lediglich am Riegel zu rütteln, als die Tür sich hinter dem jungen Zauberer schloss.
Mit allergrößter Willenskraft, ohne zu schreien und zu toben – denn das würde ihn nur noch mehr schwächen –, glitt Du-jum aus dem Bett. Er konnte sich jedoch nicht auf den Füßen halten und stürzte schwer zu Boden. Seine Wunde öffnete sich wieder, und Blut troff heraus.
Aber dann schrie er doch, laut und wütend, denn Iluras magischer Fühler zog Ixcatls Zepter aus dem Versteck, wickelte sich herum und zog es zum Fenster.
Wieder bediente Du-jum sich aller Willenskraft. Mit offener Wunde kämpfte er sich auf die Füße, murmelte eine Beschwörung und hob die Arme.
Das Zepter glühte in dem Blutfühler, und als es sich zum Fenster bewegte, spürte Du-jum seine pulsierende Kraft, zum rechtmäßigen Besitzer zurückzukehren, und er wusste, dass es stärker war als er.
Verzweifelt riss er den geschnitzten Vogel von der Brust und schmetterte ihn, ein unirdisches Wort hervorstoßend, auf den roten Fühler.
Der steinerne Anhänger erwachte zum Leben, wuchs jedoch nicht. Er kreiste wild im Gemach und stieß immer wieder zu dem Zepter hinab. Doch wann immer er ihm nahe kam, glühte der Blutfühler hell auf und schwenkte das Zepter nach dem Vogel wie eine angreifende Schlange. Kreischend und heftig flatternd hielt der Vogel sich zurück.
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