»Ihr Götter!« wisperte Omeron. Er entsann sich der gelben Augen, des Krachens und Berstens im Wald, der Furcht, die seine Männer des Nachts überwältigt hatte. Er erinnerte sich an das, was der eine Wächter gesehen und was er selbst geglaubt hatte zu sehen.
Eine Riesenschlange kroch aus dem Wald – gewaltig, mit grauen Schuppen, den -Kopf erhoben, den Rachen weit geöffnet, dass die Zunge, so dick wie der Oberschenkel eines Mannes, zu sehen war.
»Mitra!«
Sie kroch ins Lager, während der letzte Mann sich in Sicherheit bringen konnte. Der Vogel bemerkte nun die Schlange. Er kreischte und hob sich flügelschlagend vom Boden. Die Schlange zog sich zusammen, schnellte sich zischend, vorwärts. Ihre gelben Augen brannten wie Fackeln im Dunkeln. Aufgewühlte Steine und Staub flogen durch die Luft, und glühende Kohlen aus den Lagerfeuern rollten über den Boden.
Immer schneller flatterte der gewaltige Vogel höher.
Da rollte die Schlange sich zusammen und schnellte empor.
Der Vogel schrie. Omeron, Sadhur, Sonja und alle Männer sahen wie gebannt zu, als die mächtigen Kiefer der Schlange um den Hals des Vogels zuschnappten. Blut spritzte. Erbärmlich schrie der Vogel. Verzweifelt peitschte er mit den gigantischen Schwingen und hob sich dabei immer höher. Doch die Schlange gab ihn nicht frei. Sie wand sich und schlang sich um die Krallen und Beine des Vogels, während er sich mühsam höher kämpfte.
Weit über dem Lager, hoch über den Bäumen, ertönte das Brausen schwerfälliger Schwingen, und entsetzliches Krächzen und Kreischen war zu hören.
Die Männer verrenkten sich fast die Hälse, um Vogel und Schlange über dem Wald zu sehen. Sie wagten sich nun auch wieder ins offene Lager. Omeron befahl, die Männer abzuzählen, und danach sich der Verwundeten anzunehmen.
Sonja beobachtete die gespenstisch langsamen Bewegungen von Vogel und Schlange, bis der Überhang ihr die Sicht raubte. Dann, ohne auf Omerons Bitte zu achten, dass alle herbeikommen und mithelfen sollten, steckte sie ihr Schwert ein und machte sich daran, die Felswand zu erklimmen. Es war nicht schwierig; die einzige Gefahr bestand in ihrem Eifer, keinen Augenblick des ungewöhnlichen Kampfes zu versäumen.
Der Himmel verdunkelte sich, doch der Mond stand in seiner vollen Pracht im Osten, und in seinem Schein war der Kampf der beiden Giganten deutlich zu sehen. Höher kletterte Sonja, und Steinchen wie kleinere Felsbrocken rollten unter ihren Füßen in die Tiefe. Scharfe Kanten schnitten durch ihre Handschuhe, und spitze kleine Vorsprünge stachen in ihre Schenkel und Knie.
Doch sie wandte den Blick keinen Lidschlag lang von den Kämpfenden, und als sie auf dem Bergkamm angelangte, wurde sie Zeugin des Kampfausgangs.
Weit im Osten, als schwarze Silhouette vor der Scheibe des Mondes, schlug der riesige Vogel die schweren Schwingen und schüttelte die Beine. Die Riesenschlange stürzte in die Tiefe. Atemlos sah Sonja zu, wie sie in einem fernen Teil des Waldes eintauchte. Der Vogel stieß einen letzten kreischenden Schrei hervor, spannte die Flügel, warf den Kopf zurück, flatterte höher und verschwand mit der oberen Luftströmung im Dunkel finsterer Wolken.
Sonja spähte in den Wald und prägte sich die Stelle ein, wo die stürzende Schlange zwischen die Bäume gefallen war. Da sie wusste, welchen Täuschungen die Augen durch Entfernung und Dunkelheit unterliegen konnten, studierte sie auch alle auffälligeren Merkmale ringsum. Dann machte sie sich auf den Weg den‹ Hang abwärts dorthin. Der Wind blies durch ihr Haar und kühlte ihre fast fieberhafte Erregung ein wenig.
Immer wieder Halt suchend, kletterte und rutschte Sonja hinunter. Und als der Mond sich dem Zenit näherte und abwechselnd zwischen Wolken verschwand und wieder auftauchte, erreichte sie den Wald und eilte nordostwärts auf das zu, was immer dort warten mochte: das, was vom Himmel gefallen war.
»Fünf Tote!« meldete Sadhur grimmig Lord Omeron. »Und bei Mitras Zähnen, wir können verdammt froh sein, dass es nicht zwanzigmal so viele sind!«
»Ja, wir hatten Glück. Aber ich weiß nicht …« Omeron schaute sich nachdenklich im Lager und ringsum um, wo die Landschaft unberührt zu sein schien, wo kein Zweig frisch gebrochen und der Boden nicht aufgewühlt war, und das trotz der grauenvollen Verheerung, an die er sich so gut erinnerte. »Mir scheint, nicht alles war so, wie wir es zu sehen glaubten.«
Unsicher scharrte Sadhur mit den Füßen. »Kommt und schaut Euch die Toten näher an, mein Lord.«
Omeron folgte ihm zur Lagermitte, wohin die Soldaten die Toten gebracht hatten. Er kniete sich neben sie und untersuchte sie.
»Ein paar tiefe Kratzer, wie sie die Krallen eines Habichts verursachen mögen, doch keineswegs tödliche Wunden. Ich glaube, alle diese Männer starben vor Schrecken!«
»Magische Trugbilder!« knurrte Sadhur.
»Ja.« Omeron nickte mit verzerrtem Gesicht. »Und keine Spur von Sonja oder Ilura?«
. »Keine, mein Lord. Doch die Männer sind nun wilder darauf, gegen Du-jum zu kämpfen, denn zuvor.«
»Vielleicht sollten wir bis morgen warten.«
»Lieber noch heute Nacht, mein Lord«, drängte ein anderer Offizier. »Wir können die Verwundeten ja gegen Unverletzte austauschen. Ihre Wut ist nun richtig geschürt, Lord Omeron. Ein heißeres Feuer wird es nie geben, als das jetzt in ihrer Brust.«
»Du hast natürlich recht«, bestätigte Omeron. »Die Männer mögen sich zum Aufbruch bereitmachen!«
Es war ein Gewässer – ein riesiger, kreisrunder Teich – mitten in einem Tal zwischen bewaldeten Hängen. Sonja stand an seinem Ufer, am Ende des Weges, den sie sich am Bergkamm eingeprägt hatte. Eine mächtige Eiche ein Stück entfernt schien ihr jene zu sein, neben der die Schlange in den Wald gefallen war. Wenn sie es war, mochte die Schlange in den Teich gestürzt sein. Und dann zum Grund gesunken?
Dies also war das Ende des Weges, das Ende des Geheimnisses, das ihr so zu schaffen gemacht hatte – nein, immer noch machte, obgleich die Scherben nun wie die einer zerschellten Urne verstreut lagen und einige fehlten.
Etwas über Schlange und Vogel – und Ilura – ging Sonja nicht aus dem Kopf. Die Schlange – die riesige Schlange mit den gelben Augen …
Noch dichter trat Sonja an das Wasser, starrte auf seine schwarze Oberfläche, bemühte sich, sie zu durchdringen und in die tintentrübe Tiefe zu spähen; versuchte, aus der Spiegelung des Mondes und der Sterne eine Botschaft zu lesen, doch da war keine, auch keine Riesenschlange.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch, ein Atmen, ein unterdrücktes Stöhnen, ‚ein Stück höher am Ufer.
Vorsichtig tastete Sonja sich durch die Dunkelheit. Ihre Stiefel quatschten im Schlamm, und ihr Schwert schimmerte, als sie es zog.
Wieder dieses Stöhnen, aus dem Schmerzen und Erschöpfung sprachen – und das auf seltsame Weise vertraut klang.
Noch während der Mond sich hinter Wolken verbarg, kam Sonja zu einer Mulde am Ufer. Mit dem Schwert in der Rechten bahnte sie sich einen Weg durch dichtes Gestrüpp. Die Wolken wanderten weiter, und nun warf der Mond seinen prächtigen Silberschein auf den großen schwarzen Teich und den hohen Wald ringsum, und als sein Licht taghell aufs Ufer fiel, sah sie dort eine Gestalt lang ausgestreckt: die einer Frau, nackt, weiß, bleich im Mondlicht und seltsam schimmernd. Ilura!
Sonja hielt den Atem an. Am Tag hatte die Haut der Frau gebräunt gewirkt, doch hier unter dem Mond war sie von fast schillernder Blässe.
Wieder stöhnte Ilura, rollte auf eine Seite mit flatternden Lidern, die sich schließlich öffneten. Sonjas Herz setzte einen Schlag aus, als der Blick der gelben Augen – zauberhafter, unirdischer Augen – auf ihr ruhte. Sie flackerten, verdunkelten sich und glühten plötzlich hell wie Flammen im Wind.
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