»Bis morgen, spätestens übermorgen werde ich genug starken Zauber bewirkt haben, um mehr zu erfahren und mehr tun zu können, Lord Omeron.«
»Wir dürfen nicht warten. Wir müssen so schnell wie möglich handeln. Gewiss versteht Ihr, dass die Kraft der Überraschung auf unserer Seite ist, je früher wir zurückschlagen. Außerdem sterben von Stunde zu Stunde mehr meiner Untertanen unter Du-jums Hand. Ich muss jedes Leben retten, das ich zu retten vermag.«
»Ich verstehe Euch sehr gut, Fürst Omeron, aber ich fühle auch, dass Ihr ein wenig starrköpfig seid. Ich werde Euch helfen, soweit es in meiner Macht liegt, doch ich brauche ein wenig Zeit. Wenn Ihr nur noch ein bisschen warten …«
»Ich kann nicht. Und Ihr habt mir bereits sehr geholfen.«
Sadhur rief aus dem Lager hinter Omeron: »Das Los hat entschieden, mein Lord.«
»Entschuldigt mich, bitte.« Omeron verneigte sich knapp, drehte sich um und ging zu Sadhur.
Ilura blickte ihm nach, dann wandte sie sich an Sonja. »Ich hoffe, er bringt sich und seine Männer durch dieses überstürzte Vorgehen nicht in Gefahr.«
»Ich begleite sie«, sagte Sonja.
»Seid besonders vorsichtig, Hyrkanierin. Du-jum ist ein ungemein mächtiger Hexer. Er verfügt über viele Zauberkräfte.«
»Wie ich hörte, besitzt er auch eines Eurer Zaubermittel?« Sonja blickte Ilura fragend an.
»Nicht meines, sondern eines meines Tempels«, antwortete Ilura ruhig. »Ein Zepter – den heiligen Steinstab Ixcatls.«
»Ist das der einzige Grund, weshalb Ihr Omeron unterstützt?«
Die beiden Frauen blickten einander fest und forschend in die Augen.
Bedächtig antwortete Ilura: »Jede Handlung hat viele Beweggründe, Hyrkanierin. Doch es genügt, wenn Ihr wisst, dass Du-jum dieses Zauberhilfsmittel aus unserem Tempel stahl und ich beabsichtige, es zurückzubringen.«
»Und Ihr zu diesem Zweck Zauberei benutzt.« Sonja hob eine Braue und schürzte die Lippen. »Tut nicht zu geheimnisvoll vor den Männern hier, Ilura. Ihre Nerven sind bereits zu straff gespannt, und wenn sie reißen, ist nicht vorherzusehen, was sie tun werden.«
»Das ist mir voll bewusst.«
»Dann ist es ja gut … Und mein Name ist nicht Hyrkanierin, sondern Rote Sonja.«
Ilura nickte. »Habt Ihr ordentlich gegessen?«
»Ein bisschen Suppe, nicht mehr.«
»Dann esst von meinen Sachen, zur Stärkung.« Aus einem Lederbeutel neben sich holte Ilura eine frische Birne und bot sie Sonja an. »Lasst sie Euch schmecken.«
Es war eine freundschaftliche Geste. Nach kurzem Zaudern streckte Sonja die Hand danach aus. Ilura war ihr Zögern nicht entgangen.
»Es ist wirklich nur eine Birne, Sonja. Es steckt keinerlei Zauber in ihr.«
Sonja nickte und biss in die Birne. Sie war reif und vollfruchtig und schmeckte gut.
»Noch einmal danke ich Euch, Ilura.«
Die Zauberin nickte. Sonja kehrte in die Lagermitte zurück, und Iluras kalter Blick folgte ihr.
Die Vögel flogen nach Thesrad zurück und landeten in großen Scharen überall in der Stadt. Es waren Geier, Falken, Raben, Krähen und kräftigschnäbelige Aasstörche – tausende waren es, die da krächzten und kreischend schrien. Du-jum trat ans Fenster eines Turmgemachs im Palast und lauschte aufmerksam – lauschte und erfuhr so allerlei.
Yarise saß auf einem weichen Diwan im selben Gemach. An einem Kelch Wein nippend, betrachtete sie Du-jums Umrisse, die sich vom Fenster abhoben. Reglos und stumm wie eine Statue stand er und schien nicht einmal zu atmen. Die Nachmittagssonne, die durch das offene Fenster schien, fiel auf sein Gesicht, die Brust und die ‚Hände.
Ein hörbar zögerndes Klopfen erklang an der Tür des Vorgemachs. »Herein, Endi!« rief Yarise.
Du-jum regte sich auch nicht, als die junge Sklavin eintrat. Leise trippelte sie mit hängenden Schultern. Sie brachte nicht den Mut auf, zu ihrer Herrin oder deren zaubermächtigen Geliebten hochzublicken.
»Noch eine Kanne Wein, Endi, wenn du hier aufgeräumt hast.«
»Ja, Herrin.« Eilig, aber behutsam, um nur ja nichts fallenzulassen und sich so in Schwierigkeiten zu bringen, stellte Endi das Geschirr des Nachmittagsmahls auf ein Tablett und verließ damit den Raum durch die Tür des Vorgemachs.
Du-jum erwachte aus seiner Trance. »So …«, hauchte er.
Als Endi hinausging, schloss sie die Außentür nicht völlig. Leise stellte sie das Tablett auf ein Tischchen, dann spähte sie vorsichtig durch den Spalt.
Yarise beugte sich vor. »Du weißt, wo sie sind?«
»Dort!« Der Hexer deutete aus dem Fenster. »In den Bergen. Omeron lebt noch.«
»Die Verdammnis auf ihn! Wie hat er überlebt? Wie ist er entkommen?«
»Das ist unwichtig. Er muss vernichtet werden – das ist wichtig!« Immer noch wie halb in Trance trat Du-jum vom Fenster weg, griff sich an den Hals und löste den großen geschnitzten Vogel, der an seiner Brust hing.
Yarise beobachtete ihn.
Verstört, schwitzend und schluckend, beobachtete auch Endi ihn.
Du-jum ließ die Halskette achtlos auf den Boden fallen. Den großen dunklen Vogel streckte er auf einer Hand aus und flüsterte zischelnd: » Aetra’aei! «
Mit einem grauenvollen Kreischen, das die feinen Kristallkelche fast zerspringen ließ, erwachte der Vogel zum Leben. Ein plötzlicher Wind kam in dem Gemach auf, ein abscheulicher Gestank erhob sich, und die flatternden Schwingen des Vogels warfen bewegte Schatten über das Gemach. Der Vogel kreischte, kreiste mehrmals durch das Gemach und schwang donnernd die Flügel.
Yarise erschrak so sehr, dass sie vom Diwan rutschte und mit dem Gesäß schwer auf dem harten Boden landete. Sie zog an weichen Kissen, als wollte sie sich damit vor den riesigen Krallen schützen.
»Mein Liebster – haltet ihn mir fern!«
Furchterfüllt stolperte Endi rückwärts, stieß gegen das Tablett und stürzte mit dem klirrenden Geschirr auf den Boden.
Du-jum lachte laut, als sein großer Vogel ein letztes Mal kreiste, die Schwingen anzog und durch das offene Fenster schoss. Er flog über die Stadt, kreischte laut, zog eine Runde um den nächsten Turm und flog schließlich schreiend in die Richtung der Berge.
Mit jedem Flügelschlag schien der große Vogel zu wachsen, anzuschwellen, bis er einen riesigen Schatten, wie von einem gewaltigen Drachen, über die Äcker warf und sein Schrei wie der eines gigantischen Vogels der Sage vom Himmel schallte.
Dämmerurig. Die durch das Los erwählten Soldaten, die Lord Omeron nach Thesrad begleiten sollten, bereiteten sich vor. Sie versorgten ihre Pferde, schnallten ihre Rüstung fester, überprüften ihre Waffen und‹wiesen ihre zurückbleibenden Freunde an, was sie für sie tun sollten, falls sie nicht zurückkehrten.
Sonja stand ein wenig abseits. Sie sagte zu niemandem Lebewohl und bat niemandem, eine Botschaft für sie zu übermitteln. Sie hatte sich schon vielmals, öfter als die meisten Krieger in ihrem ganzen Leben, Zauberei gegenübergesehen und lebte immer noch. Sie hatte nicht vor, sich damit zu beschäftigen, was geschehen würde, falls die Zauberei diesmal stärker sein sollte als sie. Statt dessen probte sie mit einem von Omerons Männern ein paar schwierige Fechtpositionen. Mit der Klinge in der Hand standen beide vor einer kleinen Birke, die sie für ihre Übung brauchten.
»Einige Kushiten«, sagte Sonja gerade, »kämpfen erst seit kurzem mit dem Schwert. Da sie keine wirkliche Erfahrung und richtige Ausbildung damit haben, erfanden sie ihre eigene Art und Weise, die Klinge zu führen. Viele ihrer Hiebe und Stiche sind recht wirkungsvoll und können Schwertkämpfer aus anderen Ländern sehr wohl verblüffen. Ich zeige dir. einige, pass auf! Ich stelle mir vor, der Kushit kommt geradewegs auf mich zu, aber ich ahne, dass er einen Schritt zur Seite springen wird. Ich muss parieren. Statt wie üblich vorzustoßen, mache ich das …«
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